Wenn Sie einmal eine Internetsuche zu aktuellen Trends in nahezu jedem Bereich wie Finanzdienstleistungen, Produktion oder Lebensmittelindustrie durchführen, werden Sie feststellen, dass sich führende Experten auf technologische Veränderungen konzentrieren, also auf den Wandel, den die Einführung neuer, zumeist digitaler Technologien mit sich bringt.
Wenn sich Ihr Unternehmen mit Infrastrukturprojekten beschäftigt, fragen Sie sich jetzt vielleicht: Wieso gehen wir immer noch genauso vor wie vor 30 Jahren?
Architekten und Ingenieure nutzen die Vorteile digitaler Technologien so sehr aus, dass ihre Arbeitsweise dadurch geradezu revolutioniert wird. Allerdings gab es bei der Vergabe von Infrastrukturprojekten bisher starken Widerstand gegen diesen Wandel. Die Einführung neuer Technologien im Baugewerbe geht nur schleppend voran.
Der langsame Fortschritt bei der Einführung neuer Technologien bei Infrastrukturprojekten hat die Aufmerksamkeit des World Economic Forum (WEF) geweckt, eine globale Organisation, die 1971 mit dem Ziel gegründet wurde, den Fokus öffentlich-privater Partnerschaften auf die weltweit größten und drängendsten Probleme zu richten. Die jährliche Konferenz des WEF in Davos in der Schweiz zieht Staatsoberhäupter, CEOs und Vordenker an, deren Ideen auf der ganzen Welt Gehör finden.
Eine der diesjährigen Aussagen lautete, dass die Infrastrukturbranche weltweit „einer der am wenigsten digitalisierten Wirtschaftssektoren“ sei und in puncto Innovationen lange nicht an andere Branchen herankäme.
Die Meinungsführer in Davos halten den digitalen Wandel in allen Branchen für die „vierte industrielle Revolution“ und beim WEF zerbricht man sich schon seit 2018 den Kopf darüber, warum die Infrastrukturbranche dabei scheinbar abgehängt wurde.
Rückschrittliche Auftragsvergabe
Das WEF betreibt mehrere kleine Thinktanks namens Global Future Councils. Laut Joe Losavio, der das Global Future Council on Infrastructure des WEF und deren Initiative Infrastructure 4.0 leitet, ist eines der größten Hindernisse bei der Einführung neuer Technologien der starre Auftragsvergabeprozess von Stakeholdern in der Infrastrukturbranche. „Auftragsvergabeprozesse und die dafür verwendeten Tools sind nicht auf demselben Stand wie die Technologien, die jetzt für die Einführung in Betracht gezogen werden“, meint Losavio.
„Das hat teilweise mit der Art und Weise zu tun, wie in Infrastruktur im Vergleich zu Technologie investiert wird“, fügt er hinzu. „Technologie wird in der Regel mit Eigenkapital finanziert, während Infrastruktur normalerweise fremdfinanziert ist. Die Finanzierung von Technologie hat sich schnell weiterentwickelt, die Fremdfinanzierung in der Infrastrukturbranche jedoch nicht.“
Losavio unterscheidet zwischen öffentlicher Infrastruktur und Gebäuden. „Architekten, Ingenieure und Bauunternehmer konstruieren Gebäude mit einem Kunden aus der Privatwirtschaft im Hinterkopf“, erklärt er. „Kunde und Endkunde überschneiden sich oft. Das ist bei Infrastruktur jedoch nicht immer der Fall. Hier ist der direkte Kunde die Regierung.“
Aufgrund der hohen finanziellen Risiken, die mit der Vergabe von Infrastrukturprojekten einhergehen, war der Markt für große Projekte bisher nicht so anfällig für technologische Veränderungen durch neue Marktteilnehmer, wie es in anderen Branchen, z. B. bei Finanzdienstleistungen, der Fall war. Bei der Vergabe von Infrastrukturprojekten handelt es sich um einen langwierigen Prozess, der von staatlicher Finanzierung abhängig ist. Zudem sind die Hürden für innovative Start-ups sehr hoch.
Die Initiative Industry 4.0 hat einige Probleme bei der Einführung neuer Technologien sowohl durch Unternehmen als auch durch Regierungen identifiziert und arbeitet derzeit an einer Auflistung dieser Hindernisse. „Wir bauen auf die Arbeit auf, die wir bereits zuvor im Rahmen unseres Global Future Council on Infrastructure geleistet haben“, so Losavio.
Förderung von Veränderungen
Als Technokrat mit einem zusätzlichen Abschluss in International Relations ist Losavio im WEF-Team als Experte für die Themenbereiche Internet der Dinge und urbane Transformation zuständig.
Im November 2019 veröffentlichte das WEF ein Whitepaper mit dem Titel „Transforming Infrastructure: Frameworks for Bringing the Fourth Industrial Revolution to Infrastructure“. Einige der wichtigsten Fragen des Papers lauteten: Wie können technologische Veränderungen im administratorischen Bereich der Infrastrukturbranche gefördert werden? Und wie kann der öffentliche Sektor technologische Innovationen vorantreiben und gleichzeitig geistiges Eigentum schützen?
„Wir entschieden uns, unseren Hauptfokus auf den Bereich Infrastrukturtechnologie zu legen. Es galt herauszufinden, wie ein Umfeld zur Förderung von Innovationen geschaffen werden konnte. Am Ende mussten wir feststellen, dass Innovationen an sich nicht das Problem waren. Das Problem lag bei der Umsetzung von Innovationen. Wir arbeiteten mit dem Global Infrastructure Hub zusammen, dem Expertengremium für Infrastruktur der G20.“
Bei der G20 handelt sich um ein internationales Forum der Regierungen und Zentralbanken von 19 Ländern und der Europäischen Union. „Wenn bei Treffen der G20 Informationen zum Thema Infrastruktur benötigt werden, um Richtlinien erstellen zu können, beauftragt die G20 den Global Infrastructure Hub mit der Zusammenstellung dieser Informationen“, erläutert Losavio.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse war, dass der Fokus bei der Vergabe von Infrastrukturprojekten viel zu stark auf der Frage liegt, was gebaut werden soll. Vielmehr sollten sich die Überlegungen um das Problem drehen, das durch den Bau gelöst werden soll.
„Normalerweise heißt es: ‚Wir befinden uns auf einer Halbinsel und vor der Küste liegt eine Insel. Bitte bauen Sie uns eine Brücke aus Ziegelsteinen, die so hoch und so lang ist‘“, beschreibt Losavio den Prozess. „Wir sind aber an der Förderung von ergebnisorientierteren Vergabemodellen interessiert. Es bedarf eines Modells, das nach folgendem Prinzip funktioniert: ‚Wir müssen von dieser Halbinsel auf diese Insel gelangen. Legen Sie uns ein paar Ideen mit richtig guten Szenarios zur betriebswirtschaftlichen Beurteilung einer Investition vor.‘“
Laut Losavio gebe es formale Modelle, die dieses ergebnisorientierte Denken fördern – etwa die Berücksichtigung der Kosten im gesamten Lebenszyklus von Projekten statt nur der Kosten zu Projektbeginn.
Richtlinien und Fallstudien
Das „Infrastructure 4.0“-Team arbeitet an der Auflistung der Hindernisse bei der Einführung neuer Technologien bei Infrastrukturprojekten sowie an der Erstellung umfangreicher Richtlinien zur Überwindung genau dieser Hindernisse. Dabei handelt es sich um einen fortwährenden Prozess.
„Wir arbeiten außerdem an einer Bibliothek mit Fallstudien“, so Losavio weiter. „Eine der Hürden ist die folgende Annahme vieler Menschen: ‚Infrastruktur ist groß, teuer und sowohl politisch als auch gesellschaftlich sensibel. Wir wollen lieber nicht die Ersten sein, die etwas Neues ausprobieren. Wir wollen erst einmal sehen, wie es andere gemacht haben.‘“
Die Bibliothek mit Fallstudien wird sich beim Global Infrastructure Hub in Sydney befinden. Es wird zudem ein zusätzliches Büro in Toronto geben. „Sobald wir damit fertig sind und die Richtlinien ausgearbeitet sind, können wir mit den Stakeholdern der Industrie und Regierungen zusammenarbeiten, um diese Materialien auch für sie relevant zu machen“, führt Losavio aus.
Manche Branchen sind bei der Auftragsvergabe besser als andere. Innovative Ideen scheinen von jüngeren Industrien – oder von Branchen, die bereits Veränderungen erleben – auf altmodische Unternehmen überzuspringen. Viele Unternehmen haben jedoch Schwierigkeiten, junge Talente zu rekrutieren, die neue Denkweisen einbringen könnten. Dieses Problem betrifft ganze Branchen.
Diese Hürden können in einigen Ländern jedoch niedriger sein. „Kolumbien ist beispielsweise ein Markt, der versucht hat, sowohl den öffentlichen als auch den privaten Sektor innovativer zu gestalten“, sagt Losavio. „Dort hat man versucht, die Verwendung von Building Information Modeling (BIM) in den von der Regierung durchgeführten Infrastrukturprojekten vorzuschreiben. Sie sind in dieser Hinsicht also relativ zukunftsorientiert.“
Losavio spricht auch das Programm Building Schools for the Future in Großbritannien an. „Eine neue Schule in London sollte zwei verschiedene Schulen ersetzen. Man musste also nicht nur schnell bauen, sondern den Platz auch noch auf eine originelle Art und Weise nutzen“, so Losavio. „Sie fanden eine Firma, die vorgefertigtes, laminiertes Holz verwendete, das vor Ort schnell zusammengebaut werden konnte. Dank dieser Innovation konnten sie die Zeitvorgabe einhalten. Das war ein wirklich gutes Beispiel dafür, wie ergebnisorientierte Vergabemodelle zur Einführung neuer Technologien führen können.“
Ein Neustart für Bauprojekte
Das Team von Losavio arbeitete mit der Regierung Saudi-Arabiens zusammen, die bei der letzten Konferenz der G20 den Vorsitz hatte, da sich die Saudis stark auf die Verbesserung der Infrastruktur konzentrieren. „In Davos haben wir 2020 vorgeschlagen, Infrastructure 4.0 auf den Weg zu bringen“, erzählt Losavio. „Eigentlich sollte das Projekt im März starten, allerdings wurde es wie fast alles, was im März eingeführt werden sollte, verschoben. Der erste Workshop fand nun im Oktober statt.“
Die Pandemie, meint Losavio, habe zu einem Umdenken in der Baubranche geführt.
Losavia prognostiziert: „Infrastrukturen werden sich nach der COVID-19-Pandemie von dem unterscheiden, was wir bisher gebaut haben. Es ist genau jetzt an der Zeit, ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, wie wir Infrastrukturen nutzen können, um nach der Pandemie inklusivere und nachhaltigere Ergebnisse zu erzielen.“