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Diese modernen Technologien sorgen zwar dafür, dass mehr Menschen als jemals zuvor Zugang zu Informationen erhalten, haben jedoch eine der ältesten Institutionen der Welt in eine tiefe Sinnkrise gestürzt: die öffentliche Bibliothek.
Die traditionelle Relevanz einer öffentlichen Bibliothek nimmt durch E-Books mehr und mehr ab. Wer heutzutage eine Bibliothek bauen oder betreiben will, muss ihr funktionales Design und ihren Zweck überdenken.
Aus diesem Dilemma ist eine Art „Bibliotheksrenaissance“ hervorgegangen. In den letzten Jahren wurden in zahlreichen Städten Bibliotheken der Zukunft eröffnet.
Diese hochmodernen Gebäude begeistern die Öffentlichkeit mit einzigartigen Annehmlichkeiten. In der Bibliothek Deichman Bjørvika in Oslo gibt es beispielsweise ein Kino und die Nationalbibliothek von Katar in Doha bietet Räumlichkeiten für abwechslungsreiche Unterhaltungsprogramme wie die monatlichen Gratiskonzerte des philharmonischen Orchesters von Katar.
In Verbindung mit atemberaubenden Designelementen – wie den Treppenstufen in der Binhai-Bibliothek in der chinesischen Stadt Tianjin, die selbst Bücherregale sind, oder der Lobby in der neuen Central Library in Calgary, durch deren Boden man die darunter fahrenden Züge bestaunen kann – locken diese Bibliotheken nicht nur Einheimische an, sondern werden zu beliebten Touristenattraktionen.
Modernes Design
Ein Paradebeispiel für eine revolutionäre Bibliothek ist die Central Library in Austin im US-Bundesstaat Texas, die im Oktober 2017 eröffnet wurde.
Der Bau des sechsstöckigen Gebäudes nahm fast zehn Jahre in Anspruch und wurde vom Architekturbüro Lake Flato aus San Antonio in Zusammenarbeit mit dem Bostoner Architekten Shepley Bulfinch entworfen. Obwohl sich das Gebäude in der Innenstadt von Austin befindet, vermittelt es einen starken Eindruck von Natürlichkeit und bietet einen Blick auf den Lady Bird Lake und den Shoal Creek. Dieses Panorama findet Anklang – alleine in den ersten neun Monaten nach der Eröffnung verzeichnete die Central Library mehr als eine Million Besucher.
Jonathan Smith, dem Leiter des Bibliotheksprojekts im Architekturbüro Lake Flato, lag viel daran, einen Ort zu schaffen, der nicht nur Besucher anlockt, sondern auch deren moderne Bedürfnisse anspricht. Smith ist in Austin geboren und aufgewachsen. Dank seiner Großeltern entdeckte er bereits früh seine Leidenschaft für Design, die ihm schließlich einen Abschluss in Architektur von der University of Texas in Austin einbrachte.
Als Einheimischer kannte er die verschiedenen Werke von Lake Flato in der Stadt wie etwa das Hotel San Jose und war von der schlichten, ansprechenden Ästhetik des Architekturbüros begeistert. Er fasste daher den Entschluss, eines Tages selbst bei Lake Flato zu arbeiten. 2005 wurde er dann offiziell Teil des Teams.
„Sie machen nicht nur Architektur für Architekten“, so Smith über das Unternehmen. „Es geht auch nicht um die neuesten Trends, sondern um die Menschen.“
Das wichtigste Feature: Bücher?
2008 wandte sich Smith an David Lake, einem der Partner von Lake Flato, und bekundete sein Interesse, am Bibliotheksprojekt in Austin mitarbeiten zu wollen.
„Ich war mir zum Zeitpunkt des Gesprächs nicht bewusst, dass ich letztendlich fast zehn Jahre daran arbeiten würde,“ erklärt Smith. Mehr als 80 Architekturbüros aus aller Welt bewarben sich für das Projekt, aber die Wahl fiel auf Lake Flato.
Damit eine Bibliothek gebaut werden konnte, die das moderne Leben widerspiegelt, befragten Smith und sein Team die Einwohner von Austin. „In den Anfangstagen des Projekts hielten wir mehrere Bürgerversammlungen in Austin ab,“ erzählt Smith. „Es gab einige Punkte, die für die überwältigende Mehrheit von zentraler Bedeutung waren – und damit meine ich nicht nur zusätzliche Parkplätze.“
Für viele Bürger war es wichtig, dass die Bibliothek über echte Bücher verfügt – und zwar über sehr viele.
„Die Einwohner wollten nicht, dass die neue Bibliothek zu einer Technologiebar wird“, erklärt Smith. Deswegen wurde die Central Library auf mehr als doppelt so viele Bücher ausgelegt wie die alte Bibliothek. Somit bietet sie ausreichend Platz für die neuen Bücher, die über die Jahre hinzugefügt werden.
Die Regale waren jedoch nicht das einzige zukunftsträchtig gestaltete Feature. Ein wichtiger Fokus des Projekts lag auf dem Bau eines Gebäudes, das leicht angepasst werden kann. Für Smith und sein Team war der „einfachste Weg, das Gebäude zukunftssicher zu machen, die möglichst flexible Gestaltung der Gemeinschaftsräume.“
Besonders im Hinblick auf den technologischen Fortschritt, mit dem die Bibliothek Schritt halten muss, war es wichtig, zukunftsorientiert zu planen. Eine der Lösungen von Lake Flato für diese Problemstellung war es, „Zwischenböden zu verwenden, um Änderungen an der Elektroinstallation möglichst einfach zu gestalten.“ Laut Smith hat das Architekturbüro auch „relativ wenig Wände eingeplant, sodass die Bodenplatten offen für zukünftige Technologien sind.“
Nachhaltige Expansion
Ein wesentliches Merkmal des modernen Bibliotheksdesigns ist die Einbindung unkonventioneller Funktionen. Lake Flato sah hier Potenzial für den Einsatz neuer Technologien. In einem der Stockwerke gibt es einen „technologischen Streichelzoo“, der es Besuchern ermöglicht, Gadgets und Geräte auszuprobieren, die es in einem durchschnittlichen Haushalt normalerweise nicht gibt wie etwa einen 3D-Drucker oder einen Spire Studio Recorder.
Nachhaltigkeit war nicht nur für die Architekten wichtig, sondern auch für die Bürger. Die Bibliothek kann die Elektronik von heute und morgen mit Strom versorgen, der mithilfe von Solarzellen gewonnen wird.
Effiziente Kommunikation war für Smith der wichtigste Faktor bei der Übernahme eines solch langfristigen Großprojekts. „Meiner Meinung nach geht es darum, einen klaren Prozessablauf zu schaffen“, meint Smith. „Die Prozesse müssen wöchentlich weiter optimiert werden, bis alles möglichst reibungslos läuft.“
Bei so vielen beweglichen Komponenten nutzte Smith Technologie, die es allen am Projekt beteiligten Personen ermöglichte, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. „Da der Auftragnehmer für dieses Projekt auf Bluebeam setzte“, sagt Smith, „haben wir es ebenfalls übernommen. Es war äußerst hilfreich, unser über 600 Seiten umfassendes Bauplanset mittels Hyperlinks und Informationsanfragen zu verknüpfen.“
Altes mit Neuem verbinden
„Die moderne Bibliothek steht mit einem Fuß im analogen Zeitalter und mit dem anderen im digitalen“, so Smith über die fertiggestellte Bibliothek. Dieses Konzept, fügte Smith hinzu, könnte der nächsten Generation öffentlicher Räume als Grundlage dienen.
Die Central Library in Austin beweist zwar, dass der Wunsch nach einer traditionellen öffentlichen Einrichtung nach wie vor groß ist, zeigt aber auch, dass solche Institutionen nicht im Gegensatz zu den heutigen Trends stehen müssen.
„Ich glaube, die Menschen haben die Central Library in Austin deswegen so gut angenommen, weil sie den Zeitgeist der Stadt so gut einfängt“, erklärte Smith. „Sie ist eine Art öffentliches Wohnzimmer für die Stadt geworden. Ich hoffe, andere Städte investieren so in ihre Bibliothek wie Austin.“