Viele Expert:innen sind der Meinung, dass es sich beim Chicagoer Tunnel and Reservoir Plan (TARP) um eines der ehrgeizigsten Bauprojekte in der Geschichte des Bauwesens handelt. Ursprünglich wurde er entwickelt, um Überschwemmungen zu reduzieren, die Wasserqualität der Stadt im US-Bundesstaat Illinois zu verbessern und den angrenzenden Michigansee vor Verschmutzung zu schützen. Das gewaltige Projekt befindet sich seit den Siebzigern im Bau und soll bis 2029 fertiggestellt werden.
Im Laufe der Jahre sind die Herausforderungen, mit denen sich die Ingenieur:innen von TARP konfrontiert sehen, jedoch in unerwartetem Maße gestiegen. Sollten diese Herausforderungen nicht angemessen bewältigt werden, könnte das für die 9,5 Millionen Einwohner:innen Chicagos und Umgebung fatale Folgen haben.
Die vom Klimawandel ausgelösten extremen Wetterverhältnisse zwangen die Projektingenieur:innen zu einer kreativen und innovativen Herangehensweise an die Umsetzung dieses Megaprojekts. Sie bauten damit die Vorreiterrolle Chicagos im Bereich Wassertechnik aus.
Bauingenieur:innen in Großstädten auf der ganzen Welt werfen ein wachsames Auge auf Chicagos TARP-Projekt, das sich als Grundlage zur Bewältigung ähnlicher wasserwirtschaftlicher Herausforderungen weltweit etablieren könnte.
Eine innovationsreiche Geschichte
Die Wurzeln von TARP lassen sich bis zu den Anfängen von Chicagos langer Geschichte rund um die Wassertechnik und deren Notwendigkeit zurückverfolgen. Chicago befindet sich auf einem Marschland. Seit Jahrzehnten sind Bauprojekte wie TARP darauf ausgerichtet, Wasserschwankungen und -ströme der Stadt nachhaltig auszugleichen.
Die Stadt liegt an der Schnittstelle zweier großer Wasserwege: dem Chicago River, der durch das Stadtzentrum und das Umland von Chicago fließt und in den Mississippi mündet, und dem Michigansee, einem der fünf Großen Seen, der sich an der 35 km langen Ostküste der Stadt im Norden bis nach Wisconsin und im Süden bis nach Indiana erstreckt.
Die Strömung des Chicago River erfordert Lösungen aus dem Ingenieurwesen, und zwar aus folgendem Grund: Ursprünglich, also auf natürlichem Wege, mündete der Fluss in den Michigansee. Mit dem Wachstum der Stadt im Zuge der industriellen Revolution, stellte sich diese Strömungsrichtung jedoch als problematisch heraus. Im Fluss entsorgte Abwässer und Schadstoffe flossen in den See, der gleichzeitig als wichtigste Trinkwasserquelle der Stadt diente.
Damals entschloss sich die Stadtverwaltung zu einer außergewöhnlichen Maßnahme: Sie kehrten die Fließrichtung vollständig um, sodass Abwasser und Verunreinigungen nicht mehr in den See flossen.
„Die Umkehr des Chicago River durch den MWRD im Jahr 1900 gilt als eine der größten Ingenieurleistungen der Geschichte“, so Allison Fore, Beauftragte für öffentliche und zwischenstaatliche Angelegenheiten des Metropolitan Water Reclamation District (MWRD) of Greater Chicago. „Unsere Region wurde dadurch zu einem gesünderen und sichereren Lebensort gemacht, während sich Chicago als erfolgreiche Metropole etablieren konnte.“
EINE DETAILLIERTE KARTE DES TARP-PLANS FINDEN SIE HIER
Eines der Hauptziele von TARP liegt in der Bewältigung der Belastungen des Systems, die nach 100 Jahren Entwicklung und Fortschritt entstanden sind, zumal das System bereits in der Anfangsphase des Wachstums Chicagos entworfen wurde. „Anfang des 20. Jahrhunderts baute der Metropolitan Water Reclamation District of Greater Chicago große Abfangkanäle, um die Abwässer zu neu gebauten Kläranlagen umzuleiten“, so Fore. „Dieses System funktioniert gut bei trockenem Wetter, bei starkem Regen können die Abwasserkanäle und Wasseraufbereitungsanlagen allerdings an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen und zu Überläufen in der Mischwasserkanalisation führen. In den 1960er Jahren liefen die Abwasserkanäle im Großraum Chicago an mehr als 100 Tagen im Jahr in den Chicago River über.“
Die Initiierung des 1972 amtlich zugelassenen TARP-Projekts war die Lösung für dieses Problem.
Bahnbrechende Technologien
TARP basiert auf einem System von großen Tunneln und weitläufigen Reservoirs, die bei Regenwetter den Überlauf auffangen, der dann wiederum zur Reinigung in eine der sieben Wasseraufbereitungsanlagen des Systems gepumpt wird. Das System ist in der Tat extrem weitläufig.
„Man könnte 12 Soldier Field-Stadien im Thornton Composite Reservoir und mehr als 11 im McCook Reservoir aufeinanderstapeln“, so Fore in Anspielung auf das American-Football-Stadion der Chicago Bears. „Nach seiner Fertigstellung wird das McCook Reservoir das größte Mischwasserreservoir dieser Art weltweit sein.“
Das TARP-System besteht aus vier großen Tunneln und drei Reservoirs, die Wasser bis zur Reinigung in Kläranlagen speichern. Die Wasserspeicherkapazität wird nach der Fertigstellung der Anlagen etwa 75,7 Milliarden Liter betragen.
Wie erbaut das TARP-Team ein Wasseraufbereitungssystem dieser Größenordnung?
Laut Fore ist Kalkstein die Grundlage. Sie beschreibt den Ablauf des Bauprozesses des kürzlich fertiggestellten McCook Reservoirs:
„Die Reservoirs wurden aus 400 Millionen Jahren altem Gestein gebaut“, erklärt sie. „Zur Abdichtung des Bodens um den gesamten Speicherrand herum installieren wir doppelte Dichtungsschleier. Insgesamt wurden 600 Kilometer an Löchern mit einer Tiefe von über 90 Metern in einem Winkel von 15 Grad in das Gestein bei McCook gebohrt und dann schrittweise von Grund auf mit Mörtel unter Druck aufgefüllt. Der Mörtel wandert in die Risse und Klüfte des Gesteins und verringert die Durchlässigkeit. Der Dichtungsschleier bindet sich in eine fast undurchlässige natürliche Schieferschicht und verhindert so, dass Wasser aus dem Boden des Speichers entweicht.“
Das Bauen von Reservoirs dieser Größe bringt eine unglaubliche Menge an überschüssigem Kalkstein mit sich, den das TARP-Team für alle Arten von Bauprojekten in Chicago und Umgebung sowie für die Errichtung zweier künstlicher Hügel in einem lokalen Waldschutzgebiet nutzte.
Aufgrund seiner unvergleichlichen Größe ist TARP zu einem Modell für Städte in den USA und auf der ganzen Welt geworden und hat unter anderem neue Projekte in London, Singapur und Wien inspiriert. Fore weist jedoch darauf hin, dass „das Vorreiterdasein und die beispiellose Größe auch Nachteile mit sich bringen, da es keine Baupläne gibt, nach denen man sich richten kann. Wir sind mit intensiven und häufigen Schüben von noch nie dagewesenen Niederschlagsmengen konfrontiert.“
Herausforderungen durch Wetterextreme
Extreme Wetterverhältnisse treten immer häufiger auf, weshalb TARP-Ingenieur:innen mit der Herausforderung zu kämpfen haben, ein System zu entwerfen, das gewaltigerem und regelmäßigerem Hochwasser standhält.
„Der Klimawandel verändert den Wasserkreislauf, was zu Veränderungen der Menge, des Zeitpunkts, der Form und der Intensität von Niederschlägen führt“, so Fore. „Als verantwortliche Instanz für die Bewirtschaftung unseres regionalen Sturm- und Abwassers und den Schutz unserer Trinkwasserversorgung und Wasserwege stellen diese Veränderungen auf jeden Fall eine beängstigende Herausforderung dar. Das TARP-Projekt hat sich jedoch als wichtiges Werkzeug im Kampf gegen den Klimawandel erwiesen und sichert unsere Lebensqualität bei jedem noch so verheerenden Sturm.“
Die TARP-Einrichtungen haben bereits die Überschwemmungsraten in der ganzen Stadt reduziert und den Hochwasserüberlauf aufgefangen, der durch eine Reihe von historischen Stürmen in den letzten Jahren verursacht wurde.
„Das McCook Reservoir und die beiden angrenzenden Tunnelsysteme haben in den ersten drei Jahren insgesamt bereits mehr als 454 Milliarden Liter Regen- und Abwasser vor dem Überlaufen in die Wasserwege bewahrt“, so Fore. „Die beiden anderen Systeme in den Calumet- und Kirie-WRP-Becken haben seit ihrer Fertigstellung in den Jahren 2015 bzw. 1998 dafür gesorgt, dass es praktisch keine Mischwasserüberläufe in den von ihnen versorgten Gebieten mehr gibt. Ohne dieses ausgeklügelte System hätten Milliarden von Litern Wasser in diesen Tunneln und Reservoirs Keller und Straßen überflutet oder unsere Gewässer verschmutzt.“
Laut Fore hat das TARP-Team eine Reihe von Strategien entwickelt, um die Stadt bei der Überlaufsreduzierung zu unterstützen, und in mehr als 200 Projekte zur Reduzierung von Hochwasser investiert.
„Wir stellen uns auf künftige Stürme ein, indem wir unsere Ressourcen für die Regenwasserbewirtschaftung aufstocken, übergreifende Baupläne entwickeln, die uns auf die Zukunft vorbereiten, Partnerschaften und Programme ausbauen, Strategien aktualisieren und diese Neuerungen umsetzen und in Hunderte neuer Projekte zur Bewältigung des Regenwasserzustroms investieren“, erklärt sie. „Obwohl die Auswirkungen des Klimawandels noch nicht in vollem Umfang spürbar sind, hat der MWRD beschlossen, sich auf diesen angemessen vorzubereiten. So kann sichergestellt werden, dass weiterhin zuverlässige und qualitativ hochwertige Dienstleistungen in den Bereichen Abwasseraufbereitung und Regenwasserbewirtschaftung erbracht werden können und gleichzeitig die CO2-Bilanz reduziert wird. Wir können das Ausmaß zukünftiger Stürme nicht vorhersagen, aber wir können uns auf sie vorbereiten.“