Illustration von Lindsay Gruetzmacher
In der Architektur- sowie in der Bau- und Konstruktionsbranche sind Farben oft nur von zweitrangiger Bedeutung.
Wir alle wissen, dass visuelle Eigenschaften wie Licht und der Umgang mit Raum für die Benutzererfahrung eine wesentliche Rolle spielen. Farben werden jedoch oft als weniger wichtig angesehen. Mit ihnen beschäftigt man sich erst in den späteren Phasen der Planung, wenn mit der Gestaltung eines Raums begonnen wird.
Laut Dr. Stephen Westland, einem renommierten Professor für Farbwissenschaft an der University of Leeds in England, spielen Farben in der menschlichen Psychologie eine weitaus komplexere Rolle, als viele vielleicht annehmen.
„Farben sind ein scheinbar einfaches Thema“, so Westland. „Und ein sehr schönes Thema für die Lehre, da die meisten Menschen gerne über Farben sprechen und jeder denkt, etwas darüber zu wissen. Sobald Sie aber tiefer in die Materie eintauchen, werden Sie – egal aus welchem Bereich Sie kommen – feststellen, dass weitere Aspekte eine Rolle spielen, mit denen Sie sich womöglich nicht so gut auskennen.“
„Architekten müssen sich mit Neurowissenschaften und etwas Psychologie auseinandersetzen und Physiker mit Gebieten wie Philosophie, Ästhetik und Kunst. Es ist ein ungeheuer komplexes und multidisziplinäres Fachgebiet.“
Fern von der gängigeren ästhetischen Betrachtung, die den meisten vertraut ist, haben Farbwissenschaftler herausgefunden, dass Farben einen überraschend großen Einfluss auf unser Erleben von Räumen haben. „Es gibt Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass Farben von ganz außergewöhnlicher Bedeutung sind“, so Westland.
Warum Farben eine wichtige Rolle spielen
Warum haben Farben so eine starke Wirkung auf uns?
Laut Westland liegt das zum einen an der Art, wie unser Gehirn Licht verarbeitet. „Bis noch vor 20 Jahren glaubte man, dass das Auge nur eine einzige Funktion hat – und zwar das Sehen“, so Westland. „Doch dann haben wir ganz neue Fotorezeptoren im Auge entdeckt, die Signale ins Zentrum des Gehirns, den Hypothalamus, senden, von wo aus unsere Hormone und Körpertemperatur gesteuert werden, anstatt an den hinteren Bereich des Gehirns, den Okzipitallappen, der für das Sehen zuständig ist.“
Unser Gehirn nutzt diese Lichtrezeptoren dafür, um unsere innere Uhr zu regulieren und dadurch die Produktion von Hormonen zu regeln, die unseren Schlaf-wach-Rhythmus steuern. „Vor der Einführung des künstlichen Lichts waren wir draußen dem Tageslicht ausgesetzt und am Abend waren Kerzen oder Flammen die einzigen Lichtquellen“, erzählt Westland. „Heute ist unser Zuhause abends jedoch hell erleuchtet. Wir nutzen iPads und Mobiltelefone, die blaues Licht erzeugen und dem Körper damit suggerieren, dass es noch Tag ist.“ Das wirkt sich negativ auf die Melatoninproduktion sowie die Länge und Qualität unseres Schlafes aus.
Laut Westland kann blaues Licht reduziert werden, indem man integrierte Lichtsysteme einsetzt, die die Farbe und die Qualität der Strahlung über den Tag verteilt anpassen. „Bei der dynamischen Beleuchtung geht es darum, dass das Licht nicht auf eine Stärke und Farbe festgelegt ist“, so Westland. „Im Laufe des Tages wird das blaue Licht schrittweise durch wärmeres Licht ersetzt“, wodurch die natürlichen Lichtzyklen nachgeahmt werden, die der Körper braucht, um konzentriert zu bleiben.
„Studien belegen, dass Menschen langsamer ermüden und sich länger konzentrieren können, wenn durch eine dynamische Beleuchtung die Farbe des Lichts, beispielsweise in einem Büroraum, verändert wird“, erklärt Westland. Das Wissen darüber, wie unser Gehirn auf Farben reagiert, könnte einen tiefgreifenden Wandel bezüglich der Gestaltung und der Funktionalität von Büro- und Unterrichtsräumen nach sich ziehen.
Eine direkte Verbindung zum Gehirn
Aufgrund der Art und Weise, wie unser Gehirn Licht verarbeitet, können Farben direkte und weitreichende Auswirkungen auf unser Wohlbefinden und unsere Psyche haben. „Farben wirken in manchen Fällen auf wirklich ganz außergewöhnliche Weise“, sagt Westland. „2011 hat man in Tokio an den Bahnsteigen von 29 U-Bahn-Stationen, wo die meisten Selbstmorde verzeichnet wurden, blaue Strahler installiert“, erzählt Westland. „Durch das blaue Licht sank die Rate der Suizidversuche an diesen Stationen um 70 %.“ Die Ergebnisse waren so beeindruckend, dass ähnliche blaue Strahler an den Bahnsteigen des Bahnhofs am London Gatwick Airport sowie an einem Bahnhof in Schottland installiert wurden.
Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass farbiges Licht auf die Nervenbahnen wirken kann, die physische und psychische Schmerzen verursachen. „In einer kürzlich an der Oxford University durchgeführten Studie wurden Migränepatienten mit schmalbandigem farbigem Licht behandelt“, so Westland. „Man fand heraus, dass das Licht in einem bestimmten blaugrünen Farbton – die gleiche Lichtfarbe, die auch den Hypothalamus aktiviert – die Kopfschmerzen linderte.“
Laut Westland ist es durchaus denkbar, dass Migränepatienten in der Zukunft ihre eigene Lichttherapieanlage mit grünem Licht einschalten, anstatt Aspirin einzunehmen, und damit die gleiche schmerzlindernde Wirkung erzielen.
Die Kraft der Farben beim Bauen nutzen
Westland führt an, dass Farben – trotz ihrer zahlreichen positiven Eigenschaften – zu den am wenigsten untersuchten Forschungsgegenständen der physischen Umwelt zählen. Für die Endbenutzer von Gebäuden gehören sie jedoch zu einem der wichtigsten Diskussionspunkte. Nichtsdestotrotz bleiben Farben ein Thema voller optimistischer Vermutungen über Moral und Effizienz.
„Wir gehen stark davon aus, dass die Wandfarbe wahrscheinlich die Leistung positiv beeinflussen könnte“, so Westland. „Die farbige Gestaltung von Innenräumen wirkt sich im Allgemeinen positiv auf das Wohlbefinden der Bewohner aus.“
Westland ist auch der Ansicht, dass Architekten, Raumplaner und Bauunternehmer der Wirkung von Farben viel größere Bedeutung beimessen sollten, wenn sie mit der Planung eines neuen Bauwerks beginnen.
„Farben werden bei der Gebäudeplanung häufig nicht berücksichtigt, da sie zusätzliche Kosten verursachen. Diese Kosten fallen jedoch im Vergleich zu den Vorteilen äußerst gering aus“, gibt Westland zu bedenken. „Ich bin der Meinung, dass Farben als Gestaltungselement nur unzureichend genutzt werden. Es gibt unzählige Möglichkeiten, Farben und Beleuchtung in Büros, Wohnungen und Häusern auf kreativere Weise einzusetzen, um den positiven Effekt auf das Wohlbefinden und die Leistung voll auszuschöpfen.“