Ein neues Feld für die zivile Infrastruktur: Die fahrradfreundliche Stadt

Die Pandemie hat dem Anliegen von Radfahrern, Bauingenieuren und Architekten nach fahrradfreundlicheren Straßen unerwarteten Rückenwind gegeben

Auf amerikanischen Straßen koexistieren Autofahrer mit Radfahrern seit Jahrzehnten. Zu diesen Radfahrern gehören furchtlose Fahrradkuriere ebenso wie fitness- oder klimabewusste Radfahrer, die in der Freizeit oder auf dem Weg zur Arbeit in die Pedalen treten. 

In Anlehnung an europäische Städte, die historisch gesehen Radfahrern eher entgegengekommen sind, haben US-Städte langsame, aber bedeutende Fortschritte bei der Förderung der Fahrradfreundlichkeit gemacht, indem sie Tausende von Kilometern an spezieller Fahrradinfrastruktur angelegt haben.  

Dann kam das Jahr 2020 und das Anliegen der Radfahrer erhielt durch die COVID-19-Pandemie einen unerwarteten Schub. 

Als die Wirtschaft in den Lockdown ging, leerten sich die normalerweise stark befahrenen Straßen. Pendler und Shopper, die normalerweise die überfüllten Busse und Bahnen benutzen, verschwanden. Und Menschen, die sich vorher nicht mit Autofahrern im Stadtverkehr messen wollten, wagten sich zum ersten Mal mit dem Fahrrad hinaus. Die Geschäfte verkauften Fahrräder schneller, als sie sie vorrätig halten konnten.  

In letzter Zeit haben sich Regierungen und Führungskräfte zahlreicher Unternehmen in Erwartung eines Rückgangs der COVID-19-Infektionen für die Wiedereröffnung der Wirtschaft eingesetzt. Ein Rückgang ist jedoch noch nicht eingetreten, sodass viele Büros immer noch verlassen sind. In vielen Städten wurden Straßen für den Verkehr gesperrt, um nicht nur Platz für Fußgänger und Radfahrer zu machen, sondern auch für Restaurants und mehr Sitzplätze im Freien

Da sich die Krise bis in das letzte Quartal von 2020 zieht, stehen die Städte unter dem Druck, neue Wege der Straßennutzung zu erwägen. Dies hat das Interesse am Thema Fahrradinfrastruktur wieder angekurbelt. Befürworter drängen die Planer dazu, die gegenwärtige Flaute im Autoverkehr zu einer Veränderung der Straßen zu nutzen, um für die Zeit nach der Pandemie eine verstärkte Fahrradnutzung zu ermöglichen. 

„Die Herausforderung besteht darin, dass wir eine erhöhte Nachfrage nach Fahrradinfrastruktur sehen, während die Einnahmen aus der städtischen Umsatzsteuer stark zurückgegangen sind“, sagt Joe Gilpin, Vizepräsident von Alta Planning + Design und Experte für die Gestaltung von Fahrradwegen. „Der ungedeckte Bedarf scheint größer und sichtbarer zu sein, wenn die Städte Schwierigkeiten haben, ihre Notdienste zu finanzieren und grundlegende Programme am Laufen zu halten.“ 

Der magische Bereich von 3–8 Kilometern 

In vielen Gemeinden werden Radfahren und zu Fuß gehen als Freizeitaktivitäten angesehen, weshalb Radfahrer und Fußgänger nicht als wesentliche Teilnehmer des Straßenverkehrs gelten. „Für Trips mit dem Fahrrad gibt es aber einen magischen Bereich von 3–8 Kilometern“, sagt Gilpin. „Wenn die Stadt gut angelegt ist, wird es innerhalb dieser Entfernung von überall aus Ziele geben – Geschäftszentren, Schulen und so weiter. Es spielt keine Rolle, wie groß die Stadt ist. Wenn die Ziele leicht zu erreichen sind, werden die Leute ihre Fahrräder benutzen.“  

In einer Stadt mit einem homogenen Gefüge, in der viele Menschen von den Zielen weit entfernt sind, wird das Fahrrad dagegen kaum ein wichtiges Verkehrsmittel darstellen. Dennoch betont Gilpin, dass jede Stadt von entsprechenden Investitionen profitieren kann.  

„An Orten mit extrem langen Straßenblöcken, die in erster Linie als mehrspurige Hauptverkehrsstraßen zwischen unzusammenhängenden Wohngebieten dienen, ist es schwierig, eine Verbindung quer durch die Stadt zu schaffen“, sagt Gilpin. „Man kann aber entsprechende Korridore oder Radwege schaffen. Man kann auch Sackgassen verbinden, um Fahrrad- und Fußgängerwege ohne Autoverkehr besser zu verbinden. So können Fahrradfahrer Verkehrsadern ausweichen, auf denen sie sich unsicher fühlen.“ 

Ein Leitfaden für Design Thinking 

Zeitgenössische Fahrradwegkonzepte in den USA haben ihre Wurzeln in der Arbeit des ehemaligen Bürgermeisters von New York Michael Bloomberg und seiner visionären Verkehrsbeauftragten Janette Sadik-Khan, die zwischen 2007 und 2013 den Ausbau von Radwegen mit einer Gesamtlänge von über 600 Kilometern beaufsichtigte. Zahlreiche US-Städte sind diesem Beispiel gefolgt

Gilpin hat am NACTO Urban Bikeway Design Guide mitgearbeitet, der 2011 erstmals veröffentlicht wurde und weithin als Maßstab im Bereich Fahrradinfrastruktur gilt. Gilpin führt dazu weiter aus: „Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat sich unser Verständnis für die Bedürfnisse verschiedener Benutzertypen weiterentwickelt. Eine sehr kleine Gruppe von Amerikanern identifiziert sich selbst als begeisterte Radfahrer. Wenn Sie eine Infrastruktur entwerfen, die speziell auf diese kleine Gruppe zugeschnitten ist, wird sie nur von einer kleinen Anzahl an Menschen genutzt.“  

Die besten Ideen zur Fahrradinfrastruktur kommen aus Europa und besonders flachen Ländern wie den Niederlanden und Dänemark, wo das Radfahren tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. In den USA sprechen die am weitesten verbreiteten Designkonzepte nur einen winzigen Teil der Bevölkerung an. 

„Viele Amerikaner fühlen sich nicht wohl dabei, mit dem Fahrrad auf einer Hauptverkehrsstraße zu fahren und eine Fahrspur mit schnell fließendem Verkehr zu teilen“, sagt Gilpin. „Mit einem herkömmlichen Fahrradweg spricht man nur 6–8 % der Bevölkerung an. Aber sobald man eine Infrastruktur bereitstellt, die den Fahrradfahrer physisch von der Gefahr des Autoverkehrs trennt, spricht man mehr Menschen an.“ 

Bevor der Leitfaden der NACTO veröffentlicht wurde, gab es in den USA nur wenige geschützte Radwege, so Conor Semler, Associate Planner bei Kittleson & Associates, der ebenfalls an der Erstellung des Leitfadens beteiligt war. „Der Leitfaden der NACTO war in den USA die erste Veröffentlichung, die ein Konzept für die Trennung von Fahrradwegen und Straßen enthielt“, so Semler.  

Amerikanische Radfahrer vs. Autofahrer 

Bis vor kurzem ging es den Architekten, die eine harmonischere Koexistenz von Auto und Fahrrad ermöglichen wollen, vor allem darum, dass der Autoverkehr fließt. Häufig liege der Fokus auf der Minimierung von Verspätungen für Autos, sagt Gilpin. 

„Das Hauptproblem ist das Abbiegen der Autos. Das ist am riskantesten. Das Ideal besteht darin, die Fahrräder von den Autos zeitlich und räumlich zu trennen, z. B. durch ein spezielles Signal, das nur Fußgängern und Radfahrern die Durchfahrt erlaubt. Dies beeinflusst jedoch den Verkehrsfluss. Man kann beides auch ganz trennen oder eine alternative Route wählen. Eines ist jedoch klar: Es gibt keine Lösung, die für alle Standorte gleichermaßen geeignet ist“, erklärt Gilpin weiter. 

Autofahrer lassen sich strenge Regeln auferlegen. Bei Fahrrädern muss man jedoch der menschlichen Natur Rechnung tragen.  

„Wir leisten in diesem Land sehr schlechte Arbeit, den Menschen beizubringen, wie sie sich im Verkehr verhalten sollen“, stellt Gilpin fest. „Man macht mit 15 Jahren eine Führerscheinprüfung und wird danach nie wieder geprüft. In anderen Ländern gibt es Übungsplätze, auf denen Kinder geschult werden. Dazu gibt es einen Lehrplan, der mit den Grundlagen beginnt, wenn sie noch sehr jung sind – noch bevor sie alt genug sind, um Geschwindigkeit und Entfernung korrekt einzuschätzen. Wir geben uns keine Mühe, Kindern beizubringen, wie sie gute Verkehrsteilnehmer werden können.“ 

Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der sich mit dem Fahrrad bereits gut auf der Straße zurechtfindet. Diese Enthusiasten haben sich oft gegen eine spezielle Fahrradinfrastruktur ausgesprochen. „Sie wollen nicht gezwungen sein, in getrennten Fahrspuren zu fahren und hinter jemandem festzusitzen, der langsam fährt“, erläutert Semler.  

„Viele Amerikaner fühlen sich nicht wohl dabei, mit dem Fahrrad auf einer Hauptverkehrsstraße zu fahren und eine Fahrspur mit schnell fließendem Verkehr zu teilen. Mit einem herkömmlichen Fahrradweg spricht man nur 6–8 % der Bevölkerung an. Aber sobald man eine Infrastruktur bereitstellt, die den Fahrradfahrer physisch von der Gefahr des Autoverkehrs trennt, spricht man mehr Menschen an.“

Joe Gilpin, Vizepräsident von Alta Planning + Design und Experte für die Gestaltung von Fahrradwegen

Infrastrukturplaner haben das Konzept des Radfahrens als zielgerichtetes Verkehrsmittel in den Städten übernommen. Dennoch sagt Semler: „Die vorherrschende Meinung unter den Planern ist, dass die Menschen die Wahl haben sollten, ob sie auf einem speziellen Radweg oder im normalen Verkehr fahren wollen.“ 

Eine Reihe von Gestaltungsoptionen 

Architekten haben eine Reihe von Lösungen entwickelt, um das Navigieren auf den Straßen angenehm für Radfahrer zu machen. Dabei haben sie ein ganz neues Vokabular für die verschiedenen Arten von Radwegen entwickelt. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung fühlt sich auf einem mit dem restlichen Verkehr geteilten Fahrradweg wohl. Aber 50–60 % der Bevölkerung würden sich beim Radfahren wohlfühlen, wenn sie eine eigene Infrastruktur hätten, so Semler. 

Ein Fahrradweg – manchmal auch als getrennter Fahrradweg oder geschützter Fahrradweg bezeichnet – ist eine Spur, die ausschließlich für Radfahrer reserviert und unmittelbar neben oder innerhalb einer Fahrbahn mit einer Art vertikaler Trennung zwischen den Autos und dem Fahrradweg angelegt ist. Die Barriere kann aus flexiblen Pfosten, einem Bordstein oder Pflanzkisten bestehen.  

Diese physische Trennung unterscheidet einen Fahrradweg von einem „gepufferten Fahrradweg“, bei dem die Trennung visuell (normalerweise in Grün) auf die Straße gemalt wird. Ein konventioneller Fahrradweg hat einen weißen Streifen zwischen den Autos und dem Fahrradweg. 

„Der Fahrradweg ist die bevorzugte Lösung für Menschen, die Fahrrad fahren“, sagt Semler. „Aber er beansprucht auch den meisten Platz auf der Straße, der sonst für das Parken oder Fahren oder für Gehsteige vorgesehen wäre. Parkplätze für einen Fahrradweg zu opfern, ist oft umstritten. Was Parkraum angeht, sind die Leute meist sehr defensiv. Die meisten Menschen sehen Fahrradspuren immer noch als eine Investition für andere und nicht für sich selbst.“ 

Amerikanern wird beigebracht, mit dem Fluss des Autoverkehrs Fahrrad zu fahren. Entgegen dieser Intuition können Fahrradspuren in beide Richtungen oder im Gegenstrom angelegt sein, insbesondere in Einbahnstraßen.  

„Häufig werden Radfahrer nicht zwei Blocks weit fahren, um eine Straße mit der richtigen Fahrtrichtung zu finden“, erklärt Gilpin. „Sie werden einfach gegen den Strom auf einer Einbahnstraße fahren. Wenn Sie auf dieser Einbahnstraße einen Fahrradweg in eine Richtung anlegen, wird man Fahrräder haben, die in beide Richtungen fahren. Aus den Unfallstatistiken wissen wir, dass dies gefährlich ist. In der Regel handelt es sich dabei um kurze Strecken und nicht um kilometerlange. Man könnte für solche Fälle eine andere Verbindung herstellen, um die Sicherheit zu verbessern.“ 

Es bleibt abzuwarten, ob das wiedererwachte Interesse an der Fahrradinfrastruktur anhält, wenn die Pandemie vorüber ist und die Autofahrer wieder auf die Straße zurückkehren. Mit Sicherheit jedoch wird das Umweltargument für das Pendeln mit dem Fahrrad nicht verschwinden. 

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