Lebenszyklusanalysen als Instrument zur Reduzierung von CO2-Emissionen im Baugewerbe

Ein beträchtlicher Anteil der weltweiten Kohlenstoffemissionen wird im Bausektor verursacht. Lebenszyklusanalysen etablieren sich zunehmend als bewährte Methode zur Überwachung der Kohlenstoffbilanz von Gebäuden und Infrastrukturbauten. Die Branche gewinnt daraus unmittelbar umsetzbare Erkenntnisse zur Minimierung ihrer Umwelt- und Klimafolgen.

Wachsendes Bewusstsein für die Umweltfolgen der Baubranche

Aus einem 2022 veröffentlichten Branchenbericht geht hervor, dass der Bausektor im Jahr 2021 für 37 % der weltweiten energie- und prozessbedingten CO2-Emissionen und über 34 % des globalen Energieverbrauchs verantwortlich war.

Werkstoffe, die im Baugewerbe verarbeitet werden, haben dem Bericht zufolge einen Anteil von etwa 10 % am Gesamtvolumen der globalen CO2-Emissionen.

Diese Zahlen haben branchenweit das Bewusstsein für die unübersehbaren Umweltfolgen unserer Aktivitäten und Entscheidungen als Eigentümer:innen, Architekt:innen, Entwickler:innen und Nutzer:innen von Gebäuden gestärkt.

Die Bilanzierung der kumulativen Umweltfolgen während der gesamten Nutzungsdauer eines Gebäudes wird als Lebenszyklusanalyse bzw. mit dem englischen Begriff Life Cycle Assessment (LCA) bezeichnet.

Wie sieht eine Lebenszyklusanalyse im Baugewerbe konkret aus?

An der Frage des genauen Umfangs, Ablaufs und Nutzens einer aussagekräftigen Gebäudelebenszyklusanalyse scheiden sich die Meinungen. Für US-amerikanische Baufirmen hat das Carbon Leadership Forum (CLL) einen Praxisratgeber vorgelegt, der die Lebenszyklusanalyse in fünf einzelne Phasen aufgliedert, in denen jeweils unterschiedliche Auswirkungen eines Gebäudes auf die Umwelt zu berücksichtigen sind.

Die erste Phase des Gebäudelebenszyklus wird als „Fertigungsphase“ bezeichnet. Zu Buche schlagen hier insbesondere der Energie- und Ressourcenverbrauch für die Gewinnung von Rohstoffen, ihren Transport zur Weiterverarbeitung in Fertigungsanlagen und schließlich die Herstellung von Baustoffen und -teilen.

Für die Phase der „Bauausführung“ werden die Auswirkungen des Transports dieser Werkstoffe auf die Baustelle sowie der Energiebedarf ermittelt, der zum Betrieb der Baumaschinen, zur Bereitstellung zusätzlich benötigter Baustoffe sowie zur Entsorgung der entstehenden Abfälle erforderlich ist.

In der „Nutzungsphase“ der Lebenszyklusanalyse werden die Auswirkungen des Gebäudebetriebs im Verlauf seiner gesamten Nutzungsdauer bilanziert – dazu zählen Beleuchtung, Heizung, Wasserverbrauch ebenso wie sämtliche Werkstoffe, die für die Instandhaltung, anfallende Reparaturen und den Ersatz einzelner Komponenten und Armaturen benötigt werden.

Die „End-of-Life“-Phase umfasst den Abriss und die Entsorgung des Gebäudes sowie die Abfallverarbeitung, sofern das Gebäude nicht für eine weitere Belegung oder Nutzung umgebaut oder saniert wird. Als fünften Punkt schließlich sieht der CLL-Leitfaden die Analyse der „sonstigen Auswirkungen der Wiederverwendung, des Recyclings und/oder der Rückgewinnung von Materialien, Energie oder Wasser aus dem Projekt“ vor.

Vorteile und Grenzen von Lebenszyklusanalysen

Ein offensichtlicher Vorteil von Lebenszyklusanalysen liegt in der Möglichkeit, Auftraggeber:innen, Gebäudenutzer:innen und die zuständigen Planungsbehörden bei fundierten Entscheidungsprozessen während der Planung und Bauausführung zu unterstützen. Darüber hinaus zeigen sie Herstellern Potenziale zur Verbesserung der Effizienz und Qualität ihrer Produkte auf und wirken dadurch als Innovationstreiber.

Nach Einschätzung von Green Building Solutions, einer Initiative des Fachverbands der US-amerikanischen Chemiehersteller (American Chemistry Council), unterstützen Lebenszyklusanalysen Bauunternehmen durch aussagekräftige Informationen in dem Bestreben, Umweltprobleme im Zusammenhang mit der Projektabwicklung und der unsachgemäßen Entsorgung von Abfällen zu vermeiden oder zu beheben. Gebäudeeigentümer:innen wiederum profitieren von zuverlässigen Daten, die den positiven Einfluss nachhaltiger Produkte auf die Umweltbilanz ihrer Investitionen nachweisen.

Indes haben Lebenszyklusanalysen auch ihre Grenzen. So kritisiert Envirotrain– ein Anbieter, der sich auf Schulungen im Bereich Nachhaltigkeit spezialisiert hat –, der Umfang von Lebenszyklusanalysen sei zu eng gefasst, als dass tatsächlich sämtliche potenziellen Umweltfolgen eines Gebäudes berücksichtigt würden. Hinzu komme, dass sich Aspekte wie die Auswirkungen auf die Artenvielfalt schwer quantifizieren lassen.

Ein weiteres Manko liegt im Fehlen einer einheitlichen und allgemein akzeptierten Methodik. Einige Ansätze nehmen eher einzelne Aspekte wie Gewinnung, Lieferung, Bauausführung und Nutzungsdauer unter die Lupe, statt die Umweltfolgen einer Immobilie aus ganzheitlicher Perspektive zu betrachten.

Envirotrain bemängelt ebenfalls die Subjektivität mancher Annahmen über die voraussichtlichen Auswirkungen bestimmter Werkstoffe oder Verarbeitungsverfahren sowie die teilweise fragliche Qualität der vorliegenden Daten, auf denen die Analysen beruhen.

Gibt es staatliche Richtlinien für Lebenszyklusanalysen?

Wie lassen sich Zweifel am tatsächlichen Nutzen einer Lebenszyklusanalyse für ein geplantes Bauprojekt entkräften, die angesichts dieser Kritikpunkte aufkommen könnten?

Ansätze zur Standardisierung sind durchaus erkennbar. Beispielsweise hat die britische Royal Institution of Chartered Surveyors (RICS) einen WLCA-Standard (Whole Life Carbon Assessment) veröffentlicht, der „eine von der RICS genehmigte technische Methode zur Bewertung der Kohlenstoffauswirkungen von Gebäuden und zugehörigen Infrastrukturanlagen/Tiefbauarbeiten während ihres gesamten Lebenszyklus festlegt“.

Eine weitere Kritik am Lebenszyklusmodell richtet sich gegen die unzureichende Berücksichtigung indirekter, sogenannter eingebetteter Emissionen, die bei der Herstellung der verbauten Werkstoffe und Komponenten entstehen. In der Net Zero Whole Life Carbon Roadmap des UK Green Building Council (UKGBC) heißt es dazu: „Die präzise und konsistente Messung von und Berichterstattung über eingebettete Kohlenstoffemissionen ist von zunehmender Bedeutung, um sinnvolle und glaubwürdige Fortschritte bei der Erreichung der Netto-Null-Emissionsziele sicherzustellen.“

Aus Sicht des UKGBC stellen eingebettete Emissionen eine Herausforderung für das gesamte Baugewerbe dar, an deren Bewältigung bisher nur eine kleine Gruppe von Branchenführern arbeite. Hingegen sei es dringend erforderlich, dass sie „branchenweit von allen Projektbeteiligten angegangen“ werde.

Entsprechend hat der kanadische National Research Council eine Reihe von Richtlinien für die Gesamtökobilanzierung von Gebäuden (Whole Building Life Cycle Assessments, wbLCA) erstellt.

Mit diesen Leitlinien will der NRC „wbLCA-Fachkräften ein Instrument an die Hand geben, um die Qualität und Vergleichbarkeit ihrer Ergebnisse sicherzustellen; die Berechnung zuverlässiger Baselines oder Benchmarks ermöglichen; LCA-basierte Compliance-Systeme in Programmen und Richtlinien für umweltfreundliches Bauen sowie die Entwicklung und Verwendung von wbLCA-Software unterstützen“.

Lebenszyklusanalysen als aussagekräftige Handlungs- und Entscheidungsgrundlage

Lebenszyklusanalysen sind kein Allheilmittel, das sämtliche Nachhaltigkeitsprobleme im Baugewerbe ein für allemal lösen könnte. Fest steht jedoch, dass ihnen im Rahmen von Bestrebungen um die Verbesserung der Umwelt- und Klimabilanz der Branche eine zunehmend wichtige Rolle zukommt.

So sieht etwa das US-amerikanische Carbon Leadership Forum ihre Bedeutung vor allem in der Möglichkeit, Architekt:innen und Eigentümer:innen bei fundierten Entscheidungen in Bezug auf die Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit unterschiedlicher Werkstoff- und Planungsoptionen zu unterstützen. Zudem bildeten sie eine solide Grundlage für die Beantragung von Umweltzertifizierungen sowie die Bewertung der Gebäudeleistung anhand objektiver Benchmark-Kriterien.

Kritische Stimmen monieren auch, dass bei Lebenszyklusanalysen kontextbezogene Faktoren (geografische Lage usw.) teilweise unzureichend berücksichtigt würden. Sehr viel sinnvoller als der Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen wäre die kontinuierliche Optimierung der Gebäudeleistung unter den jeweiligen konkreten Gegebenheiten, so das Argument.

Angesichts der alternativlosen Notwendigkeit, die Kohlenstoffemissionen der Baubranche zu reduzieren, ist dennoch davon auszugehen, dass sich Lebenszyklusanalysen zunehmend durchsetzen werden.

Die wachsende Resonanz und Relevanz „grüner“ Zertifizierungsprogramme wie LEED und BREAM zeigen, wie ernst das Thema in der Branche selbst und bei den Auftraggeber:innen genommen wird.

Ungeachtet aller Kritikpunkte liefern Lebenszyklusanalysen aussagekräftige Informationen über die Umweltfolgen eines Gebäudes. Aller Voraussicht nach werden sie sich in den kommenden Jahren immer stärker durchsetzen.