Wodurch ist der Städteverfall gekennzeichnet?
Vielen Menschen auf der ganzen Welt ist der Anblick von verfallenen Wohn- und Bürogebäuden nicht fremd. Oftmals gleichen sich die Bilder: Reihen von verlassenen, heruntergekommenen Häusern, leer stehende, abbruchreife Fabriken, mit Graffiti übersäte Mauern, Straßen voller Schutt und Abfälle, überwucherte Grünflächen und ungepflegte öffentliche Plätze. Dies sind Beispiele für den Städteverfall.
Die Ursachen des Städteverfalls
Laut den Wörterbuchdefinitionen ist Stadtverfall (in Englisch: Urban Blight), also der Verfall von städtischen Gebieten, auf Alterung und Vernachlässigung zurückzuführen. Wenngleich dies zweifelsohne zutrifft, ist es nur ein Teil der Wahrheit und die Gründe für solch negative Entwicklungen in Städten sind komplex.
Einer der Schlüsselfaktoren bei der Frage, warum Menschen ein bestimmtes Gebiet verlassen, ist beispielsweise ein Rückgang der Wirtschaftsleistung. Leer stehende Häuser sind den Elementen ausgesetzt und ein vormals wohlhabender Bezirk verfällt zusehends.
So kann ein ehemals geschäftiger Hafen aufgrund von fehlender Rentabilität geschlossen werden, was schwere Folgen für die lokale Wirtschaft hat, die von dem Hafen abhängig ist. Eine Stadt, deren Wohlstand auf Industrien wie den Bergbau, die Stahlherstellung oder die Textilproduktion zurückzuführen ist, kann auch verfallen, wenn der Wirtschaftsbereich eingestellt oder an einen anderen Ort verlagert wird, wo die Kosten niedriger sind.
Beispiele für den Städteverfall
Ein bekanntes Beispiel ist Detroit. Die Stadt ist die größte Stadt in den USA, die jemals (in ihrem Fall 2013) einen Insolvenzantrag stellen musste. Die Autoindustrie, die in den 1930er und 1940er Jahren maßgeblich zum Wohlstand der Stadt beigetragen hatte, geriet in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts ins Straucheln. Eine Mischung aus Armut, sozialen Unruhen und einem Mangel an politischer Führung ließ einige Bezirke der Stadt schließlich verfallen.
Die Veränderungen der Produktion, die als die Seele der Stadt gilt, mögen bei den Schwierigkeiten eine Rolle gespielt haben, doch es gab auch noch andere Faktoren. Thomas Sugrue, der Autor des Buches „The Origins of the Urban Crisis: Race and Inequality in Postwar Detroit“, beschreibt diese wie folgt: „Detroit ist ein extremes Beispiel für die Probleme, mit denen jede größere alte Industriestadt in den USA zu kämpfen hat. Seit mehr als 60Jahren sind diese Städte geprägt von fehlenden Investitionen, Entvölkerung und einer heftigen Feindseligkeit zwischen der Stadt, den Vororten und dem restlichen Bundesstaat.“
Auch Naturkatastrophen können für den Niedergang einer Stadt verantwortlich sein. 2005 wurden infolge des Hurrikans Katrina 80% des Stadtgebiets von New Orleans überflutet. Eine Million Einwohner:innen verloren ihre Häuser, von denen durch die Katastrophe viele unbewohnbar wurden. Fast 20Jahre später hat sich die Stadt immer noch nicht vollständig erholt und der Verfall der Stadt ist weiterhin ein Problem.
Manchen Stimmen zufolge ist das Phänomen des Städteverfalls in US-amerikanischen Städten wie Detroit, Chicago und Philadelphia ansteckend. Unbebaute und ungepflegte Grundstücke führen zu einem Rückgang der Immobilienpreise, halten Menschen davon ab, in diese Gegend zu ziehen, behindern potenzielle Investitionen und schrecken Unternehmen ab, die ihre Büros und Geschäfte dann an anderen Orten eröffnen.
Im Zuge einer solch negativen Entwicklung eines Gebiets kommt es häufig zu Verschmutzung, Vermüllung und sogar Kriminalität und anderem unsozialen Verhalten. All das führt wiederum zu einem Dominoeffekt und der Verfall breitet sich aus. Die Folgen eines solchen Niedergangs sind erheblich.
Umgang mit dem Problem
Das Problem besteht nicht nur in den USA. Auch eine Reihe von Städten und Gemeinden in Großbritannien, insbesondere in wirtschaftlich weniger attraktiven Gebieten, haben mit Städteverfall zu kämpfen. Teile von Glasgow und Liverpool, aber auch kleinere Städte wie Hartlepool waren im Laufe der Jahre immer wieder davon betroffen.
Diese Städte haben vieles gemeinsam: Bezirke mit leer stehenden Gebäuden, die auf bessere Zeiten warten, heruntergekommene und baufällige Wohnhäuser, weit verbreitete Armut und schlechte Berufsaussichten, eingeschränkter Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie Kommunalverwaltungen, die angesichts ihres geringen finanziellen Spielraums kaum etwas erreichen können.
Einige, darunter die Aktivistengruppe Land Is Free, sind der Auffassung, die Art der wirtschaftlichen Veränderungen in den vom Verfall betroffenen Gebieten „erklärt nicht, warum ungenutzte Gebäude nicht für andere Zwecke umgebaut oder abgerissen werden, damit an ihrer Stelle neue Gebäude entstehen können. Auch erklärt sie nicht, warum unbebaute Grundstücke dem Verfall preisgegeben und auf diese Weise zu einem Magnet für Vandalismus und Kriminalität werden.“
Die Antwort liegt ihrer Meinung nach in einer Anpassung des Steuersystems, um das Horten von Grundstücken für Unternehmen weniger rentabel zu machen, „sodass der Besitz von ungenutzten Flächen verhindert und die Erneuerung gefördert wird“.
Wie haben sich solche Gebiete erholt?
In Detroit wurden 150Einwohner:innen damit beauftragt, ungenutzte Flächen im gesamten Stadtgebiet auf eine mögliche neue Nutzung zu prüfen. Laut Data-Smart City Solutions, einem Teil der Harvard University, waren rund 40.000Immobilien vom Verfall betroffen und wurden in der Folge entweder zum Abriss oder zur Sanierung freigegeben.
Im Rahmen einer ähnlichen datengesteuerten Fragebogenstudie wurden weitere 38.000Immobilien identifiziert, die akut vom Verfall bedroht waren. Die städtische Taskforce für die Beseitigung des Stadtverfalls regte eine weitere Inspektion dieser Immobilien sowie eine Reihe von Maßnahmen an, darunter Abriss, Sanierung und Sicherung für eine künftige Nutzung.
In Chicago wurden unbebaute Grundstücke für nur einen Dollar an Anwohner:innen und lokale Organisationen verkauft, die sich dann um deren Verschönerung kümmerten. In Philadelphia wurden die Einwohner:innen dazu ermutigt, unbebaute Flächen landschaftlich zu gestalten– eine Praxis, die „die Schusswaffenkriminalität deutlich eindämmt, die Immobilienpreise ankurbelt und sogar der Gesundheit der Bewohner zugutekommt“.
In Baltimore haben die lokalen Behörden mit Wissenschaftler:innen der Johns Hopkins University an einem Projekt gearbeitet, um das Ausmaß des Problems in der Stadt festzustellen und Lösungen dafür zu finden.
Ziel dieser Studie in Baltimore war unter anderem herauszufinden, welche Maßnahmen die örtlichen Politiker:innen ergreifen mussten, um das Problem zu entschärfen. Dazu zählten der Verkauf von Immobilien, die Ausstellung von Bescheiden und die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum.
Erholung und Erneuerung nach dem Verfall
Die Erholungsphase nach dem Verfall ist ein langsamer Prozess. Die Einbeziehung der Menschen vor Ort in den Umgang mit dem Problem ist ein wichtiger Schritt, um das Problem wirklich zu lösen. Die Unterstützung der kommunalen und der Bundesbehörden ist genauso entscheidend wie das Erfassen bestmöglicher Daten, um das Ausmaß des Problems zu verstehen und die Lösung zu finden, die am besten geeignet ist.
Die Option, Fachkräfte zurate zu ziehen, sollte ebenfalls erwogen werden.
Wissenschaftler:innen der Michigan State University haben den Begriff der „Domikologie“ geprägt, der ihre Studien zum Lebenszyklus der gebauten Umwelt beschreibt. Sie untersuchen den Weg von der Planung, dem Entwurf und dem Bau bis hin zum Ende der Nutzung, der Aufgabe und dem Rückbau bzw. der Wiederverwendung der Gebäude.
In einem Artikel in „The Conversation“ beschreibt das Forschungsteam, wie die Domikologie die zyklische Natur der gebauten Umwelt in den Vordergrund stellt: „Letztendlich versuchen wir uns eine Welt vorzustellen, in der kein Gebäude mehr abgerissen werden muss. Stattdessen werden Konstruktionen mit der Idee entworfen [und umgesetzt], dass sie am Ende ihrer Nutzbarkeit zurückgebaut und ihre wertvollen Komponenten wiederverwendet oder recycelt werden können.“
Das Team fügt hinzu, dass „Behörden diese Maßnahmen unterstützen können, indem sie Richtlinien, Anreize und Vorschriften einführen, um die Aufgabe von Gebäuden zu verhindern und den Abriss zu erleichtern… [und] wenn diese Ideen erst einmal in Planung, Entwurf, Finanzierung und Bau Gestalt angenommen haben, wird das Ziel sein, eine weitere Epidemie des Stadtverfalls wie die, die wir heute in Detroit sehen, zu verhindern“.