Können die virtuelle und die erweiterte Realität die Probleme des Baugewerbes lösen?

Mit der Einführung von Technologie für virtuelle und erweiterte Realität sind Architekt:innen in der Lage, ihre Kund:innen durch ihre Entwürfe zu führen, noch bevor der erste Spatenstich gesetzt wird. Bauunternehmer:innen können zudem die beste Vorgehensweise ermitteln, indem sie Bilder einer bestehenden Baustelle mit digitalen Plänen für Objekte wie Rohrleitungen überlagern.

Was verbirgt sich hinter den Technologien für erweiterte und virtuelle Realität?

Die beiden Technologien für erweiterte Realität (Augmented Reality, AR) und virtuelle Realität (Virtual Reality, VR) gibt es schon eine ganze Weile. Sie gestatten uns, die Welt auf eine andere Weise zu sehen.

AR wurde 1968 von dem Wissenschaftler und Informatiker Ivan Sutherland an der Harvard University entwickelt. Durch ein Headset, in das ein überlagertes, virtuelles Bild integriert ist, können Menschen die Welt als Momentaufnahme sehen und erhalten gleichzeitig ein Bild davon, wie sie in Zukunft sein könnte.

VR entstand in den 1980er‑Jahren, als der US-amerikanische Digitalkünstler Jaron Lanier ein spezielles Headset und einen Handcontroller entwickelte, mit denen Benutzer:innen „andere Welten“ entdecken und sich in ihnen bewegen konnten, ohne dabei einen einzigen Schritt zu tun. Diese Innovation brachte Lanier in manchen Kreisen den Ruf als Erfinder der virtuellen Realität ein.

Große Technologieunternehmen haben sich natürlich für VR interessiert, jedoch mit unterschiedlichem Ausmaß an Engagement.

Während Google etwas VR-Luft schnupperte und sich später wieder zurückzog, stellte Apple diesen Monat sein Mixed-Reality-Headset „Vision Pro“ vor. Die Datenbrille, die im nächsten Jahr für 3.499 USD (ca. 3.200 EUR) auf den Markt kommen soll, birgt laut Financial Times „das größte Risiko, das der Chief Executive Officer Tim Cook, der 2011 Steve Jobs ablöste, bisher bei einem Projekt eingegangen ist“.

Dieses gewagte Unterfangen von Apple kann als Bestätigung für die herrschende Meinung gewertet werden, dass VR einen festen Platz in der modernen Welt hat – und AR ebenso, jedoch in geringerem Maße.

Warum sollten VR und AR im Baugewerbe genutzt werden?

Ein Bereich, in dem AR und VR mehr als „nur“ Spiel- und Unterhaltungserlebnisse bieten, ist die Produktivitätsverbesserung. Beide Technologien kommen seit geraumer Zeit im Baugewerbe zunehmend zum Einsatz und unterstützen bewährte computergestützte Werkzeuge wie die Bauwerksdatenmodellierung (Building Information Modeling, BIM).

Visualisierung in Echtzeit

Architekturbüros wie Hawkins\Brown in Großbritannien verwenden VR seit mehr als fünf Jahren. Die Technologie zeigt den Teams, wie ein Projekt letztendlich aussehen wird, und ermöglicht es, lange vor Baubeginn mit Kund:innen durch ein Gebäude zu „gehen“.

Hawkins\Brown nutzten VR, um die Oculus-Treppe im sbarc | spark-Gebäude auf dem Innovation Campus in Cardiff zu entwickeln. Mithilfe der Technologie konnten die Mitarbeiter:innen des Büros und der Kunde sehen, welcher Blick sich vom Fuß der Treppe nach oben bieten würde.

AR- und VR-Technplogien gehen Hand in Hand. Im Baugewerbe versetzen diese Lösungen alle Beteiligten in die Lage, ein Projekt so oft aufzusuchen, wie sie möchten. Dabei können sie durch die Überlagerung von bestehenden Objekten mit 3D-Bildern erkennen, welche Aspekte beim Bau umgesetzt werden können und welche nicht.

Geplante Installationen innerhalb eines Rohbaus, wie Rohrleitungen, Fenstern und Türen sowie deren Positionen, können vor Ort mit einem speziellen Headset angesehen werden, bevor Subunternehmer die Arbeiten ausführen.

Gemeinsame Gestaltung

James Worthington, Senior Associate im Bau-, Ingenieurs- und Projektteam bei Charles Russell Speechlys, sieht bessere Entwürfe als einen der möglichen Vorteile von VR und AR im Baugewerbe. Er argumentiert, dass „die Techniken zur Visualisierung und Modellierung am Computer im Bereich der Entwurfsgestaltung durch die immersive virtuelle Realität ersetzt werden“.

Worthington nannte verbesserte Baubarkeit als weiteren Vorteil. VR kann als Werkzeug zur Zusammenarbeit genutzt werden, „mit dem Bauteams in der Lage sind, ein Gefühl für das Projekt zu bekommen und sich bereits vor den Bauarbeiten einen Überblick über die Aufgaben verschaffen können“.

Wie können AR und VR die Ausbildung im Baugewerbe verbessern?

Worthington glaubt, dass VR im wichtigen Bereich der Arbeitssicherheit dafür eingesetzt werden kann, „Ausbildungen sicherer zu machen. Maschinenführer:innen können zunächst wertvolle Erfahrungen in einer simulierten Umgebung gewinnen, bevor sie ihr Gerät auf der Baustelle bedienen.“

Laut dem VR-Schulungsunternehmen Pixo trägt der Einsatz von VR in Schulungen zum Thema Sicherheit und Fähigkeiten am Bau dazu bei, „die korrekte Wiedergabe des Lehrstoffes und die Merkfähigkeit zu verbessern sowie die Schulungsdauer zu verringern“.

Pixo fügt hinzu, dass bei Unternehmen, die VR in Schulungen zu Bausicherheit nutzen, weniger Sicherheitsvorfälle auftreten. Dadurch kann 43 % an Zeit eingespart werden, die sonst durch die Auswirkungen eines Unfalls verloren gegangen wäre.

Unter Berufung auf eine Studie der Iowa State University sagt Pixo, dass Student:innen, die im Rahmen Bauschulungen VR nutzen, besser bei Schweißnahtprüfungen abschlossen als Student:innen, die traditionelle Schulungen erhielten. Das Unternehmen verweist außerdem auf einen Bericht von Capgemini, laut dem der Mehrwert nach der Implementierung von AR/VR bei 82 % der Unternehmen laut eigenen Angaben die Erwartungen übertraf.

Die Erkenntnisse aus einem Bericht von Accenture scheinen diese Angaben zu bestätigen. Demnach erreichte eine Gruppe von Teilnehmer:innen, die mithilfe von VR geschult wurden, „durchschnittlich eine 12 % höhere Genauigkeit und eine 17 % schnellere Fertigstellungszeit als Teilnehmer:innen, die ein Lehrvideo angeschaut hatten“.

Eine von Matthias Guegler von der California Polytechnic State University durchgeführte Umfrage zeigt, dass VR-Technologie „zur Lösung von Sicherheitsproblemen beiträgt. Sie bietet die Möglichkeit, Arbeiter:innen in realistischen Baustellenszenarien zu schulen, ohne sie dabei Gefahren auszusetzen.“

Gibt es Grenzen bei der Nutzung von VR und AR im Baugewerbe?

Welche Nachteile hat der Einsatz von VR und AR im Baugewerbe? Für einige Unternehmen stellen Ressourcen ein Problem dar. Nicht nur können Technologien wie AR und VR teuer sein, es werden auch die richtige Software und das entsprechende technische Fachwissen benötigt, um solche Werkzeuge in die Unternehmensstruktur zu integrieren.

Beim Thema Sicherheit gibt es zudem einige Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes und des Eingriffs in die Privatsphäre durch die Technologie.

Außerdem besteht ein grundsätzlicher Mangel an Erfahrung in den Bereichen AR und VR, der den Fortschritt in Unternehmen erschwert. Die Einstellung von jüngeren Mitarbeiter:innen kann in diesem Bereich allerdings Abhilfe schaffen.

Expert:innen gehen davon aus, dass AR und VR die Weltwirtschaft und damit auch das Baugewerbe grundlegend verändern werden. Das Beratungsunternehmen PwC erörtert in einem Bericht, dass VR und AR das Potenzial haben, die Weltwirtschaft bis 2030 um 1,5 Billionen USD (ca. 1,36 Billionen EUR) anzukurbeln.

„VR und AR bieten Unternehmen einen großen Vorteil: in Bezug auf die Schulung von Mitarbeiter:innen und das Testen von Verfahren, einschließlich der Simulation von realistischen Szenarien und sogar von Umgebungen mit hohem Risiko“, heißt es in dem Bericht.

Unternehmen, die AR- und VR-Technologien entwickeln, Beratung in diesem Bereich anbieten oder sie implementieren, müssen laut PwC andere Unternehmen und die Gesellschaft besser über die vielen Vorteile dieser Technologien aufklären. Nur so kann die auf dem Markt bestehende Zurückhaltung gegenüber der Nutzung von AR und VR in der Bauausbildung überwunden werden.

„Diese Gespräche müssen auf den Möglichkeiten von heute basieren, und nicht auf weit entfernten Visionen. Das bedeutet, es müssen mehr Menschen dazu gebracht werden, die Technologie auszuprobieren und sich die Zeit zu nehmen, etwaige Bedenken zu verstehen, zu beantworten und auszuräumen“, so die Schlussfolgerung im Bericht.

Solche Worte sind Musik in den Ohren vieler Baufachkräfte.

Laden Sie unser Whitepaper „Bluefacts – was wir von anderen Regionen lernen können“ kostenfrei herunter.