Illustration von Lindsay Gruetzmacher
Nach mehr als einem Jahr des Auf und Abs während der Corona-Pandemie rücken Fragen nach der psychischen Gesundheit immer mehr in den Fokus. In den USA haben sich unter den Erwachsenen Fälle von Depressionserkrankungen verdreifacht. Forscher:innen beobachten außerdem immer häufiger Schlafprobleme, einen gesteigerten Konsum von Alkohol und anderen Suchtmitteln sowie Verschlimmerungen bestehender chronischer Erkrankungen.
Laut Angaben der US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) kann die schlechte psychische Verfassung eines Mitarbeitenden schwerwiegende Folgen am Arbeitsplatz haben und sich z. B. auf die Faktoren Leistung, Produktivität und Motivation auswirken. So ergab eine Studie laut CDC, dass Depressionen die Arbeitsfähigkeit einer Person, körperliche Aufgaben zu erledigen, in 20 % der Fälle beeinträchtigen kann.
Aufgrund des damit verbundenen Stigmas kann es allerdings schwierig sein, psychische Probleme anzugehen. Im Baugewerbe ist diese Hürde besonders hoch.
„In der Branche ist immer noch eine männlich geprägte Mentalität vorherrschend. Probleme dieser Art werden als Schwäche gesehen und es gilt das Motto ‚Reiß dich zusammen‘“, so Steve Williams, Vorsitzender der auf das Baugewerbe spezialisierten Beratungsfirma Ecto HR. „Im Allgemeinen ist es in der Branche nicht üblich, über diese Herausforderungen zu sprechen und sie als solche anzuerkennen.“
Doch in seinen Kundenkreisen hat Williams hautnah mitbekommen, was die Pandemie ihnen allen abverlangt hat. Psychische Gesundheit sei etwas, das Bauunternehmen dringend ansprechen müssen, führt er weiter aus.
Im Folgenden stellen wir 6 Herangehensweisen zum Ausbau der entsprechenden Gesundheitsleistungen und der Förderung des seelischen Wohlbefindens der Mitarbeitenden im Baugewerbe vor.
Ein Hilfsangebot für Mitarbeitende anbieten und bewerben
Williams empfiehlt Unternehmen die Einrichtung eines Hilfsprogramms für Mitarbeitende. Durch dieses Unterstützungsangebot erhalten Mitarbeitende Zugang zu Ressourcen für den Umgang mit gesundheitlichen Sorgen und der Abhängigkeit von Suchtmitteln sowie bei familiären und finanziellen Problemen.
Für Unternehmer sind diese Programme relativ erschwinglich: Nach Angaben der Society for Human Resource Management (SHRM) belaufen sich die Kosten pro Monat und Mitarbeitenden auf etwa 0,75–2 USD. Hilfsangebote können oft über den Krankenversicherungsanbieter des Unternehmens eingerichtet werden, so Williams.
Wenn Sie bereits etwas Entsprechendes anbieten, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, dieses Programm zu bewerben. Laut Williams wissen viele Mitarbeitende nichts vom Hilfsangebot ihres Arbeitgebers oder falls doch nutzen sie es nicht. Nach Zahlen der International Employee Assistance Professionals Association ist die durchschnittliche Rate für die Inanspruchnahme dieser Angebote bei etwa 4,5 % gleichbleibend gering.
Dabei ist es wichtig, dass Sie nicht nur über Ihr Hilfsangebot informieren, sondern auch einen bestehenden Irrglauben ausräumen: Betonen Sie unbedingt, dass alle Gespräche und etwaige Behandlungen absolut vertraulich bleiben. „Hilfsangebote erfordern kontinuierliche, fortlaufende Förderung kombiniert mit der Zusicherung, dass der Arbeitgeber keinerlei Einsicht nehmen kann“, sagt Williams weiter. „Dass es zu 100 % anonym und unabhängig ist.“
Führungskräfte schulen
Vorgesetzte und andere Führungskräfte sind oft die Ersten, denen verändertes Verhalten bei ihren Teammitgliedern auffällt. Daher sei es, so Williams, besonders wichtig, Mitarbeitende in führender Position darin zu schulen, Suchtmittelprobleme und psychische Belastungen zu erkennen und die betroffenen Personen an die richtigen Anlaufstellen zu vermitteln. Arbeitgeber können sich zu diesem Thema auch von Ihrem Krankenversicherungsanbieter kompetent beraten lassen.
Michael Bustin, der auf langjährige Erfahrung als Führungskraft im Baugewerbe zurückblicken kann, ist davon überzeugt, dass man einen Mitarbeitenden kennenlernen muss, um dessen persönlichen Probleme zu erkennen. „Als Führungskraft muss man seine Teammitglieder wirklich verstehen und kennen, um ihre Herausforderungen und Probleme zu begreifen“, so Bustin, der seit 25 Jahren im Baugewerbe tätig ist und derzeit die Position des Global Chief Growth Officer bei Durasein, einem Hersteller von Mineralwerkstoffen, innehat.
Das Gespräch suchen
Bauen Sie Stigmata ab, indem Sie offen über psychische Gesundheit sprechen, so Williams. Veröffentlichen Sie im unternehmensinternen Newsletter Statistiken über die Häufigkeit psychischer Probleme. Gehen Sie bei Meetings zum Thema Sicherheit speziell darauf ein.
„Zeigen Sie den Menschen, dass psychische Erkrankungen in den USA und auch im Baugewerbe keine Einzelfälle sind“, führt Williams weiter an. „Und dass es wichtig ist, sich gegenseitig Unterstützung und das Gefühl von Sicherheit zu geben.“
Stichwort Achtsamkeit
Beim Konzept der Achtsamkeit geht es darum, im Hier und Jetzt zu sein: sich voll auf die jeweilige Aufgabe zu konzentrieren und nicht auf andere Stressfaktoren. Dieser Ansatz kann unsere psychische Gesundheit verbessern und Studie um Studie zeigt, dass achtsames Verhalten auch zu höherer Sicherheit auf Baustellen beiträgt.
„Um ein wirklich erfolgreiches Sicherheitsprogramm zu bieten, sollte man den Blickwinkel ändern und den Mitarbeitern achtsames Verhalten beibringen“, so Kimberly Kayler, Vorsitzende von AOE, einer Beratungsfirma, die oft mit Unternehmen aus dem Baugewerbe und dem Ingenieurwesen zusammenarbeitet. „Auch im Baugewerbe sollte man die möglichen Vorteile von mehr Achtsamkeit nicht unterschätzen.“
Achtsamkeit in das Leben der Mitarbeitenden zu bringen, kann einfach sein: Bereits finanzielle Unterstützung für den Abschluss von App-Abonnements, wie Calm oder Headspace, die sich mit Achtsamkeit befassen, kann viel bewirken.
Methoden der Achtsamkeit können auch in Meetings zur Sicherheit am Arbeitsplatz eingebracht werden oder in Form von morgendlichen Dehn- und Streckübungen, so Kayler, die neben Ihrem Beruf als Yoga-Lehrerin Vorträge zu verschiedenen Themen wie z. B. Achtsamkeit in Unternehmen anbietet.
Verpassen Sie der Achtsamkeit einen neuen Anstrich, wenn Sie fürchten, dass Ihr Team diese Methoden sonst als neumodisch und „alternativ“ abtun könnte. „Wenn Ihre Mitarbeitenden mit dem Begriff der Achtsamkeit nichts anfangen können oder sich sogar dagegen sträuben, dann finden Sie einfach eine andere Bezeichnung“, so Kayler weiter. „Vielleicht nennen Sie es dann Stressabbau oder die Neuausrichtung von Prioritäten.“
Doch Kayler mahnt auch, nicht den voreiligen Schluss zu ziehen, dass „hartgesottene“ Bauarbeiter grundsätzlich kein Interesse an Achtsamkeit hätten.
„Manchmal ist es auch ganz unerwartet der konservative Ingenieur, der nach einer Sitzung zu mir kommt, um mir ein Buch über Achtsamkeit zu zeigen, das er gerade liest“, erzählt Kayler. „Erfahrungen wie diese haben mir gezeigt, dass man Menschen nicht in Schubladen stecken sollte.“
Urlaub verpflichtend machen
Urlaub kann die psychische Gesundheit verbessern, doch Williams beobachtet, dass viele Baustellenleiter:innen, Vorarbeiter:innen und Bauleiter:innen nie Urlaub nehmen.
„Sie stehen oft unter Strom und je näher die Fertigstellung des Projekts rückt, desto mehr haben sie das Gefühl, dass sie es sich nicht leisten können, einmal abzuschalten“, so Williams.
In seinem eigenen Büro handhabt Williams es so, dass er seine Mitarbeitenden dazu verpflichtet, sich mindestens einmal im Jahr eine ganze Woche freizunehmen, und das rät er auch seinen Kund:innen. Wenn Ihre Mitarbeitenden sich dagegen sträuben, Urlaub zu nehmen, lassen Sie sie wissen, dass Sie für Ersatz sorgen und die Arbeit nicht liegen bleibt.
Auf Einfühlungsvermögen bei der Teamleitung achten
Bustin hat die Auswirkungen psychischer Probleme im eigenen Familien- und Freundeskreis miterlebt. Auch deshalb möchte er mit gutem Beispiel vorangehen und Einfühlungsvermögen an erste Stelle setzen: Er begegnet den Problemen seiner Mitarbeitenden mit Verständnis und versucht, ihnen die bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Das ist eigentlich einfach nur das, was eine gute Führungskraft immer tun sollte, sagt er.
„Das Schwierigste an der Geschäftswelt ist eigentlich immer die menschliche Komponente“, erklärt er. „Man muss verständnisvoll sein. Ich selbst war früher in genau der gleichen Situation wie sie. Ich weiß, dass Menschen Fehler machen und dass sie Probleme haben. … Als erfolgreiche Führungskraft muss man sich auf sein Team verlassen, auf es zählen und ihm vertrauen. Führungskräfte sind da, um andere auf dem Weg zum Erfolg anzuleiten.“