Abbau von Stigmata: Der Kampf für mehr Bewusstsein und Unterstützung rund um mentale Gesundheit in der Baubranche

Das Baugewerbe, das eine der höchsten Selbstmordraten aufweist, hat damit begonnen, sich mit den Herausforderungen der mentalen Gesundheit auseinanderzusetzen, indem es das Bewusstsein dafür schärft, entsprechende Stigmata abbaut und für mehr Unterstützung sorgt.

Wie viele andere Menschen auch hat Lea Rummel selbst erlebt, wie ernst es um die eigene mentale Gesundheit stehen kann.

Nachdem sie während ihres Studiums mit Angstzuständen und Depressionen zu kämpfen hatte und bei ihr nach dem unerwarteten Tod ihrer Mutter 2017 eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde, erfuhr Rummel am eigenen Leib, welche psychischen und physischen Folgen solche Beschwerden haben können.

Viele psychische Probleme sind genauso schwerwiegend und manchmal sogar schwerwiegender als viele medizinische oder körperliche Leiden. Jede Krankheit kann Menschen nicht nur daran hindern, zur Arbeit zu gehen, sondern in den schlimmsten Fällen auch davon abhalten, grundlegenden Bedürfnissen wie Schlafen und Essen nachzukommen.

Das dringende Problem der Baubranche

Obwohl psychische Belastungen ein Problem sind, mit dem Arbeitnehmer in allen Branchen konfrontiert sind, scheinen Baufachkräfte mehr als andere damit zu kämpfen zu haben.

Die Bauindustrie in den USA hat mit 53,3 pro 100.000 Arbeiter eine der höchsten Selbstmordraten, so eine Studie der Centers for Disease Control and Prevention von 2020.  Diese Rate ist viermal höher als der nationale Durchschnitt und fünfmal höher als die aller anderen Todesfälle im Baugewerbe zusammen.

„Wir verbringen so viel Zeit mit der körperlichen Sicherheit und Gesundheit im Bauwesen“, sagt Rummel, die als Kalkulatorin beim Generalunternehmen Rudolph & Sletten im kalifornischen Menlo Park arbeitet. „Wir müssen ähnliche Anstrengungen im Bereich der mentalen Gesundheit unternehmen.“

Es gibt viele Gründe, warum das Baugewerbe im Vergleich zu anderen Branchen stärker von psychischen Problemen betroffen ist. Die meisten Aufträge sind für die Bauarbeiter mit einer enormen körperlichen Belastung verbunden, die sich auch in langen Arbeitstagen unter hohem Druck und langen Fahrten von Baustelle zu Baustelle äußert. Entlassungen sind an der Tagesordnung. Die Ungewissheit ist groß.

Darüber hinaus können körperliche Verletzungen auf der Baustelle zu Medikamenteneinnahme und -missbrauch führen, insbesondere von starken Schmerzmitteln und anderen ärztlich verordneten Arzneimitteln, da die Arbeiter befürchten, dass ihr Arbeitsplatz oder ihre finanzielle Sicherheit gefährdet ist, wenn sie wegen einer Verletzung eine Schicht verpassen.

Männer im Fokus

Ein großer Risikofaktor schwebt jedoch über diesen Stressfaktoren, der das Problem besonders gravierend macht.

„Einer der Hauptrisikofaktoren, den wir in der Baubranche haben, ist, dass sie immer noch stark von Männern dominiert wird“, sagt Rummel. „Und leider spielt toxische Männlichkeit in dieser Branche immer noch eine große Rolle. Toxische Männlichkeit ist zweifellos eine Gefahr für Frauen, aber sie ist auch eine Gefahr für Männer.“

Das führe zu einer Stigmatisierung von Männern, die sich bei möglichen psychischen Problemen Hilfe holen, meint Rummel, was einige dazu bringe, sich in den Selbstmord zu flüchten. Obwohl Frauen statistisch gesehen häufiger als Männer an einer psychischen Krankheit leiden, ist die Wahrscheinlichkeit, durch Selbstmord zu sterben, bei Männern weitaus höher. „Frauen greifen eher auf Bewältigungsstrategien zurück als Männer, die still leiden“, sagt Rummel.

Lea Rummel im Büro von Rudolph & Sletten.

Mit dem Problem des Selbstmords im Baugewerbe sah sich Rummel in ihrem Umfeld konfrontiert, als einer ihrer Kollegen von Rudolph & Sletten, mit dem sie auch befreundet war, Selbstmord beging. Und wie in vielen Fällen waren die Anzeichen dafür, dass bei ihm Selbstmordgefahr bestand, im Nachhinein offensichtlich, im Vorfeld jedoch schwer zu erkennen.

„Ein paar Monate vor seinem Tod rief er mich eines Tages an und erzählte mir, dass er große Probleme hatte und es ihm wirklich sehr schlecht ging, und er wirkte auch, als ob er eine schwere Zeit durchmachen würde“, erinnert sich Rummel. „Aber am Ende des Telefonats sagte er dann: ‚Aber du kennst mich, ich komme klar.‘“

„Ein Teil des Problems besteht darin, dass selbst diejenigen, die diese Warnzeichen und Symptome bei jemandem bemerken, keine Ahnung haben, wie sie auf ihn zugehen und worauf sie achten müssen“, fügt Rummel hinzu.

Proaktive Herangehensweise an das Problem

Die Bauindustrie hat in den letzten Jahren damit begonnen, ihr Problem mit der mentalen Gesundheit proaktiver anzugehen. Während sich die Stigmatisierung des Themas in der Gesellschaft im Großen und Ganzen deutlich reduziert hat und immer mehr Menschen offen darüber sprechen und bei Bedarf Hilfe in Anspruch nehmen, hat sich auch in der Baubranche etwas getan.

Bauunternehmen ergreifen unter anderem direkte Maßnahmen, indem sie intern in Leistungen und Programme zur Förderung der mentalen Gesundheit investieren. Auch bei Rudolph & Sletten ist das der Fall.

Schon bevor Rummel 2023 in das Unternehmen eintrat, hatte Rudolph & Sletten Anstrengungen unternommen, um Gespräche über mentale Gesundheit und Unterstützung unter den Mitarbeitern zu fördern. Doch Rummel brachte neben ihren Fähigkeiten als Kalkulatorin auch eine frische Portion Engagement und Leidenschaft für das Thema in das Unternehmen ein.

Rudolph & Sletten hatte vor Rummels Zeiten ein Komitee gegründet, das die Programme des Unternehmens für mentale Gesundheit überwachen sollte, und kleine, aber wirkungsvolle Maßnahmen wie einen 988-Schutzhelmaufkleber entwickelt, um die Arbeiter auf die Notrufnummer für Suizidprävention aufmerksam zu machen. Es wurden auch Aufkleber auf der Baustelle verteilt, die einen QR-Code mit detaillierteren Informationen zur mentalen Gesundheit enthielten.

Rummel ihrerseits hat begonnen, eine regelmäßige Kolumne zum Thema mentale Gesundheit zu schreiben, die im vierteljährlichen Newsletter des Unternehmens erscheint. Die neueste Kolumne enthält eine Liste mit Bücherempfehlungen, die den Kollegen dabei helfen soll, auch außerhalb der Arbeit gesunde Routinen für ihr mentales Wohlbefinden zu entdecken.

Rummel wurde außerdem ausgewählt, um vor internen und externen Branchengruppen über das Bewusstsein für mentale Gesundheit im Baugewerbe zu sprechen. Sie hat auch internen Videos, die an die Mitarbeiter versendet werden, ihre Stimme geliehen, um sie an wichtige Übungen und andere Belange der mentalen Gesundheit zu erinnern.

„An diesem Punkt meiner Karriere spreche ich sehr gerne über mentale Gesundheit und Suizidprävention“, sagt Rummel. „Für mich ist es einfach. Daher macht es mir nichts aus, über das Thema zu sprechen, denn ich weiß, wie schwierig es sein kann. Und ich hoffe, dass, wenn ich darüber spreche, es anderen hilft, sich besser oder wohler zu fühlen, wenn sie selbst darüber sprechen.“

Kontinuierlicher Einsatz

Die meisten Bauunternehmen, die ihren Mitarbeitern eine Krankenversicherung und Unterstützungsprogramme anbieten, haben in ihren Angeboten bereits Leistungen für die mentale Gesundheit inbegriffen, erzählt Rummel. Es reicht schon aus, die Mitarbeiter darauf aufmerksam zu machen, dass ihre Versicherung beispielsweise eine Therapie, eine Beratung oder andere psychische Behandlungen abdeckt, damit sie eine wirksame Maßnahme ergreifen können.

Aber Bauunternehmen müssen nicht nur ihre Angestellten darauf hinweisen, dass ihre Leistungen auch psychische Erkrankungen abdecken, sondern auch weiterhin an einer Unternehmenskultur arbeiten, die Offenheit fördert. Die weitere Sensibilisierung sowohl auf der Baustelle als auch im Büro wird einen großen Beitrag zur Entstigmatisierung von psychischen Problemen leisten, insbesondere bei den vielen Männern, die immer noch im Stillen mit ihrem Leiden ringen.

Rummel meint, dass es noch nicht viele Daten aus der Branche gibt, die zeigen, inwieweit sich die Bemühungen um die mentale Gesundheit auszahlen, obwohl sie einige Einzelstudien erwähnt, die darauf hindeuten, dass die Selbstmordraten in einigen Fällen zu sinken begonnen haben.

Auch wenn es noch keine konkreten Daten gibt, so Rummel, ist der Gewinn, den Bauunternehmen durch Investitionen in die mentale Gesundheit und andere unterstützende Maßnahmen erzielen, von unschätzbarem Wert. 

„Wie hoch ist der ROI?“, fragt Rummel. „Es rettet Menschenleben. Und von daher ist es mehr als lohnenswert, die Initiativen weiter zu verfolgen.“

Wenn du Unterstützung brauchst, rufe bitte die Telefonseelsorge an.