Baugewerbe und Biodiversität in Einklang bringen
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass sich die Bauindustrie unserer modernen Welt negativ auf die Umwelt auswirken kann. Mit dem wachsenden Bedarf an Städten und dem zunehmenden Bau von Häusern, Geschäftsgebäuden, Straßen und Bahnlinien sind Konflikte zwischen Umweltschützer:innen und der Bauindustrie unausweichlich.
Nehmen wir die „High Speed 2“ oder HS2 als Beispiel, das derzeit größte Infrastrukturprojekt im Vereinigten Königreich. Während es als wichtiger Bestandteil der grünen Verkehrsrevolution freudig begrüßt wurde, war der Bau der 100 Milliarden Pfund (etwa 118 Milliarden Euro) teuren Hochgeschwindigkeitseisenbahnstrecke von Anfang an umstritten. Nach Ansicht des U.K. Wildlife Trusts wird sie „irreparable Schäden an wertvollen geschützten Lebensräumen“ verursachen, ein Vorwurf, der von den Beteiligten am Bau der Strecke entschieden zurückgewiesen wird.
Während weiterhin Druck auf die Erbauer:innen der HS2 ausgeübt wird, betonen Politiker:innen und in gewissem Maße auch die Bauindustrie immer wieder, dass das Projekt nicht auf Kosten unserer wertvollen Flora und Fauna gehen darf.
Vor diesem Hintergrund verabschiedete das britische Parlament am Silvesterabend 2020 einen neuen Umweltschutzgesetzesentwurf, demzufolge Bauprojekte nicht nur ihre Auswirkungen auf die Umwelt reduzieren, sondern zu einem sogenannten “Biodiversity Net Gain“ von 10 % führen müssen. Das bedeutet, dass Bauunternehmen dafür zu sorgen haben, dass sich die Voraussetzungen zum Erhalt der Biodiversität auf dem bebauten Grundstück nach Abschluss des Projekts um 10 % verbessert haben.
Umweltschädliche Auswirkungen ausgleichen: ja oder nein?
Die Förderung der Biodiversität durch Architektur ist eine enorme Herausforderung. Für viele Bauunternehmer:innen wird der Ausgleich der umweltschädlichen Auswirkungen ihrer Projekte voraussichtlich mit hohen Kosten verbunden sein, ähnlich wie bei jenen, die versuchen, ihre Kohlenstoffemissionen zu mindern. Alternativ können sie sich an einem kommerziellen Renaturierungsprogramm beteiligen, bei dem unproduktives Land, auch „Soft Estate“ genannt, in ein Paradies für Pflanzen und Tiere verwandelt wird.
Je nach Grundstück und Bauunternehmer:in kann sich ein Bauvorhaben ganz unterschiedlich auf die Biodiversität auswirken. Ein Teil von Kidbrooke Village, einem neuen Wohnungsbauprojekt im Süden Londons, das von der Berkeley Group realisiert wird, wurde letztes Jahr mit dem „Sir David Attenborough Award for Enhancing Biodiversity“ ausgezeichnet. Dem Bauträger zufolge wird das abgeschlossene Projekt einen Biodiversitätsnettogewinn von mehr als 200 % erreichen.
So beeindruckend Kidbrooke Village in Bezug auf den Naturschutz und den Bau Tausender neuer Wohnungen auch ist, solche Beispiele sind doch noch relativ selten und es bleibt noch viel zu tun.
Eine kürzlich durchgeführte Befragung des Wirtschaftsprüfungsunternehmens KPMG, die die Einstellung von Baugesellschaften zum Thema Biodiversität untersuchte, ergab, dass weniger als 25 % diesen Aspekt bei ihren Berichtsverfahren berücksichtigten. Laut Richard Threlfall, Partner und Global Head of Infrastructure bei KPMG IMPACT, sei das nicht genug. „Ich fürchte, dass die baugewerblichen Bestrebungen unseres Landes und der wachsende Fokus auf die Biodiversität nicht miteinander vereinbar sind.“
Ein Biodiversitätsnotstand
Threlfall forderte die Branche auf, über ihre Maßnahmen zur Förderung der biologischen Vielfalt im Baugewerbe anhand von Standards wie jenen der Global Reporting Initiative zu berichten. Bauunternehmen sollten bei ihren Zielen zum Erhalt der Biodiversität die Lieferkette berücksichtigen und bei Umweltverträglichkeitsprüfungen alles ihnen Mögliche unternehmen, um die Erwartungen zu übertreffen.
Außerdem möchte er, dass Unternehmen Aufträge ablehnen, „die aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Biodiversität umstritten oder fragwürdig sind“.
Die von der Bauindustrie ausgehenden Bedrohungen für die Umwelt lösen zahlreiche Reaktionen aus. So schloss sich ein Netzwerk von Architekt:innen unter dem Namen „UK Architects Declare“ zusammen und fordert einen „Paradigmenwechsel“ bei der Auftragsvergabe von Bauprojekten sowie dem Entwurf und dem Bau von Gebäuden.
Die Gruppe rief einen Klima- und Biodiversitätsnotstand aus und betonte, dass die bebaute Umwelt für fast 40 % der energiebedingten CO2-Emissionen verantwortlich sei. Deshalb legte sie Schritte für Architekt:innen, Bauunternehmen und Kund:innen fest, „um unsere Arbeitsmethoden zu stärken, für eine Architektur und einen Städtebau mit einer positiveren Auswirkung auf die Umwelt“.
Mit mehr als 1.100 Architekturbüros, die die Kampagne unterstützen, darunter Firmen wie Hawkins\Brown, PLP Architecture und WilkinsonEyre, versucht das Kollektiv, „das Bewusstsein für die Klima- und Biodiversitätsnotlagen und den daraus resultierenden dringenden Handlungsbedarf unserer Kunden zu schärfen und dies auch bei unseren Lieferketten zu berücksichtigen … und Grundsätze für den Klimaschutz und den Erhalt der Biodiversität als Schlüsselmaßstab für den Erfolg unserer Branche zu etablieren.“
Die Gruppe möchte außerdem, dass Architekturbüros „mehr regenerative Designprinzipien anwenden … mit dem Ziel einer Architektur und eines Städtebaus, die über den Standard der Netto-Null-Kohlenstoffemissionen hinausgehen“.
Stakeholder in der Verantwortung
„The Economics of Diversity“ ist ein von Partha Dasgupta, einem Wissenschaftler der Universität Cambridge, geschriebener umfassender Bericht, der im letzten Jahr von der britischen Regierung veröffentlicht wurde und viele kritische Punkte bei der Entwicklung von Projekten in der Natur abdeckt. Dabei betont Dasgupta die Verantwortung aller Stakeholder, sicherzustellen, die Auswirkungen dieser Projekte auf die Umwelt möglichst gering zu halten.
Dasgupta fasst das zusammen, was er in seinem Bericht „Optionen für Veränderungen“ nennt und argumentiert, dass Erfolgsgeschichten auf der ganzen Welt „uns nicht nur zeigen, was möglich ist, sondern auch, dass der gleiche Einfallsreichtum … der uns dazu veranlasst hat, [schädliche] Anforderungen an die Biosphäre zu stellen … eingesetzt werden kann, um transformative Veränderungen voranzutreiben, vielleicht sogar in kürzester Zeit.“
Ähnlich wie andere wegweisende Umweltschützer:innen wie der Naturforscher Sir David Attenborough ist Professor Dasgupta der Meinung, dass dauerhafte Schäden verhindert werden können, wenn wir Verantwortung übernehmen und jetzt handeln.
Wie er bereits in seinem Bericht erwähnt: „Es ist nicht zu spät, weder individuell noch kollektiv, uns bewusst für einen neuen Weg zu entscheiden. Das sind wir unseren nachfolgenden Generationen schuldig.“