Welche Fähigkeiten braucht die nächste Generation im Baugewerbe?

Von Wissen über 3D und KI bis hin zu Lieferketten und Baustellenlogistik: Die Baufachkräfte von morgen müssen über diese und weitere Kompetenzen verfügen, um in der Branche Erfolg zu haben.

Ich habe ca. 1996 im Baugewerbe angefangen. Zu den großen Ereignissen des Jahres gehörten die Olympischen Spiele in Atlanta, die Wiederwahl von Bill Clinton zum Präsidenten und das erste Spiel der Major League Soccer in den USA. Das scheint alles schon eine Ewigkeit her zu sein. Seitdem ist schließlich viel passiert. Nicht nur in politischer und kultureller Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die technologische Weiterentwicklung in der Gesellschaft allgemein und besonders in der Technologie, die zum Planen, Durchführen und Verwalten von Bauprojekten eingesetzt wird.

In der Highschool habe ich einen Maschinenschreibkurs belegt, um die Hälfte eines Semesters zu füllen. In der anderen Hälfte hatte ich einen Pflichtkurs zu Gesundheitsthemen. Vielleicht hätte ich einen Automechanikkurs belegen sollen, aber damals wollte ich mir wohl nicht die Hände schmutzig machen. Ein Maschinenschreibkurs erschien mir damals irgendwie irrelevant. Ich weiß noch, wie ich gedacht habe: „Wozu sollte ich jemals gut tippen können müssen? Es gibt doch Leute, die das für einen machen.“ Ich ging davon aus, dass der Kurs einfach zu bestehen sein würde. An die Zukunft habe ich damals nicht gedacht.

Ich bin sehr froh, dass ich diesen Kurs belegt habe. Nicht einmal zehn Jahre später habe ich zahllose Stunden mit Tippen verbracht und zwar bei der Arbeit mit Datenbanken, beim Verfassen von Dokumenten und beim Erstellen von Präsentationsfolien und Tabellenkalkulationen. Ich habe Schätzungen und Kostenvoranschläge erstellt, Verträge aufgesetzt und Probleme bei Bauprojekten gelöst.

Da frage ich mich, welche Kompetenzen künftig im Baugewerbe relevant sein werden. Welche Kurse werden heute von Schüler:innen als unwichtig erachtet, wie ich damals das Maschinenschreiben als irrelevant angesehen habe? Welche Fähigkeiten werden in den kommenden Jahrzehnten in der Branche gefragt sein? Wie sieht die Baustelle der Zukunft aus? Und was sind die Fähigkeiten, mit denen man sich in dieser Branche von der Masse abheben kann?

3D-Intelligenz

Die erste Kompetenz der neuen Generation, die mir einfällt, ist virtuelle 3D-Intelligenz, d. h. die Fähigkeit, Ideen anhand digitaler Modelle zu verstehen und zu veranschaulichen. Vor einer Generation haben wir zur Vorbereitung auf eine Laufbahn im Baugewerbe gelernt, wie man Baupläne liest, also wie man die Punkte, Linien und Bögen auf einem Satz Pläne interpretiert und anhand dieses Verständnisses dann das Bauprojekt durchführt. Ich glaube, dass es künftig nicht nur für Leute, die diese Modelle erstellen und koordinieren, wichtig sein wird, sich in einer virtuellen 3D-Welt zurechtzufinden, sondern auch für Leute, die im Büro und auf der Baustelle arbeiten. All diese lebensechten 3D-Videospiele, die Kinder so spielen, sind vielleicht doch relevant für die Zukunft.

Programmieren/Softwareintegration

Ein Bereich, der vielleicht weniger auf der Hand liegt, stellt das Programmieren und Integrieren verschiedener Softwareprogramme über Programmierschnittstellen (APIs) dar. Das sind die Mechanismen, mithilfe derer zwei Softwarekomponenten miteinander kommunizieren können. Auf den ersten Blick ist das genau das Gegenteil von den Fähigkeiten, die man bei der Verwaltung von Bauprojekten braucht. Es gibt aber so viele verschiedene Lösungen für bestimmte Aufgaben im Baugewerbe, dass Berufseinsteiger:innen ihre Karrieren dadurch beschleunigen können, dass sie integrierte Lösungen durch „Hacken“ zusammenführen, um Probleme zu lösen und auf Daten zuzugreifen.

Genau wie es für meine Generation von Vorteil war, sich mit Tabellenkalkulationen und Datenbanksoftware auszukennen, müssen die Baufachkräfte von morgen mit künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen umgehen können. Diese innovativen Technologien werden zwar oft so dargestellt, dass sie Menschen die Arbeitsplätze wegnehmen, aber das sehe ich nicht so. Meiner Ansicht nach ist es weitaus wahrscheinlicher, dass künstliche Intelligenz (KI) als Ergänzung zu menschlichem Einfallsreichtum und nicht als Ersatz dafür eingesetzt werden wird.

Man kann sich KI als eine Technologie vorstellen, die monotone, sich wiederholende Aufgaben automatisiert und optimiert, damit Baufachkräfte mehr Zeit für komplexe Arbeit mit großer Wirkung haben.

Derzeit basieren die meisten Systeme zur Unterstützung der Entscheidungsfindung auf statischen Dashboards und festgelegten Formeln, die Aufschluss über Änderungen sowie deren voraussichtliche Kosten und den damit verbundenen Zeitaufwand geben sollen. KI und ähnliche Technologien haben hingegen in vielerlei Hinsicht bereits Einzug in unser Leben gehalten. Wir nutzen KI z. B. dann ganz unbewusst, wenn wir unser Handy mittels Gesichtserkennung entsperren oder unsere Sprachassistenten darum bitten, etwas auf unsere Einkaufsliste zu setzen. Wer weiß, wie man KI-Konzepte für die Geschäftsprozessautomatisierung und zur Entscheidungsfindung nutzen kann, kann mehr Zeit auf das Bauen verwenden und muss weniger Zeit mit dem Erfassen und Interpretieren von Daten verbringen.

Lieferketten

Eine weitere für Baufachkräfte relevante Kompetenz wird meiner Ansicht nach ein Verständnis für Lieferketten sein. Die Beschaffung von Baumaterialien ist äußerst komplex. Jedes Projekt hat wohl eine einzigartige Lieferkette, um Arbeitskräfte, Geräte und Baumaterialien zu beschaffen.

Wie die COVID-19-Pandemie gezeigt hat, können Lieferketten jedoch störanfällig sein und unterbrochen werden, was zusätzliche Risiken für Bauprojekte birgt. Als Reaktion darauf versuchen Führungskräfte im Baugewerbe, die Lieferketten der Branche mehr wie die der Fertigung zu gestalten. Dort werden Materialien und sogar Teile von Strukturen in einer Fabrik montiert, bevor sie auf eine Baustelle transportiert und da letztlich verbaut werden.

Ein Verständnis solcher Lieferketten und ihrer fertigungsähnlichen Aspekte wird für die nächste Generation von Baufachkräften unverzichtbar sein.

Baustellenlogistik

Zu guter Letzt werden auch Kenntnisse der Logistik eine wichtige Kompetenz für die Baufachkräfte von morgen darstellen. Nicht nur Lieferketten sind in letzter Zeit komplexer geworden, sondern auch die Logistik, die eine Baustelle produktiv und damit letztlich ein Projekt für seine Eigentümer:innen und Investor:innen erfolgreich macht.

Baustellenlogistik ist eine Kompetenz, die bereits jetzt eine große Bedeutung für den Erfolg der Branche hat und auch in Zukunft haben wird. Eine mangelhafte Baustellenlogistik kann zu zahlreichen Problemen wie Bauabfall und anderen Risiken führen, die sich negativ auf den Zeitplan und letztlich auf den Gewinn eines Projekts auswirken.

Darüber hinaus haben sich für neue Technologien wie Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) sowie andere metaverseähnliche Umgebungen bereits vielversprechende Anwendungsmöglichkeiten in der für die Bauvorbereitungsphase erforderliche Logistik ergeben. Auch die Aneignung solcher Kenntnisse wird zum Erfolg künftiger Führungskräfte im Baugewerbe beitragen.   

Blick in die Zukunft

Natürlich kann keine dieser Kompetenzen ein fundiertes Verständnis für die physischen Eigenschaften von Materialien und des eigentlichen Bauvorgangs ersetzen. Zusätzlich zum Erwerb dieser modernen Kompetenzen würde ich allen künftigen Baufachkräften dazu raten, praktische Berufserfahrung zu sammeln. Man kann zum Beispiel bei Habitat for Humanity oder einer anderen Freiwilligenorganisation anfangen. Welche anderen Kompetenzen sind Ihrer Meinung nach wichtig für die nächste Generation von Baufachkräften? Eines ist sicher: Das Baugewerbe wird viel digitaler und technologielastiger sein, als dies aktuell der Fall ist, und die Innovationsgeschwindigkeit wird im Laufe der Zeit weiter zunehmen.

Matt Wheelis ist Senior Vice President of Strategy der Abteilung „Build & Construct“ der Nemetschek Group, dem Mutterunternehmen von Bluebeam.

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