Kann Lean Construction die Branche retten?

Die derzeitige Wirtschaftslage wird künftig wahrscheinlich noch mehr Druck auf die Baubranche ausüben. Angesichts dieser Aussichten wenden viele Unternehmen Lean-Construction-Methoden an, um ihren Kund:innen trotzdem einen Mehrwert bieten, für effiziente Arbeitsabläufe sorgen und Abfälle reduzieren zu können.

In einer kostenbewussten Branche wie dem Baugewerbe ist es seit jeher entscheidend, Produktivitätssteigerungen durch eine enge Zusammenarbeit mit Projektbeteiligten zu erzielen, Abfälle zu vermeiden, pünktliche Materiallieferungen zu gewährleisten und Projekte im Zeit- und Budgetrahmen abzuschließen. 

Unter turbulenten wirtschaftlichen Bedingungen, wie wir sie aktuell erleben, nehmen diese Zielsetzungen einen umso größeren Stellenwert ein. 

Aus branchenübergreifenden Produktivitätsevaluierungen geht hervor, dass das Produktivitätsniveau im Bauwesen regelmäßig hinter dem anderer Branchen zurückliegt. Aus diesem Grund ist man sich im Bausektor auch schon seit Langem bewusst, dass moderne Technologien und neue Arbeitsweisen unabdinglich sind, um einen grundlegenden Wandel herbeizuführen. 

In diesem Kontext bedienen sich Baufachkräfte nicht nur immer mehr digitaler Methoden, sondern wenden sich auch dem Lean-Construction-Ansatz mit großem Interesse zu. 

Was ist Lean Construction? 

Lean Construction orientiert sich am Lean Manufacturing (schlanke Produktion)  – einer Praxis, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan entwickelt wurde, als Toyota sein Just-in-time-Produktionssystem einführte. 

Bei Toyota wollte man damals einen effizienteren, weniger verschwenderischen Herstellungsprozess entwickeln. Um die Produktion entsprechend zu verschlanken, wandte man unter anderem die folgenden Prinzipien an: Fehler sollten rechtzeitig identifiziert und als Optimierungspotenzial verstanden werden. Probleme sollten frühzeitig erkannt und schnell behoben werden. Effiziente Lieferketten sollten genutzt und Abfälle reduziert werden. Es sollte Wert auf eine effektive Zusammenarbeit gelegt sowie eine „Überlastung“ von Systemen und Abläufen während des gesamten Produktionsprozesses vermieden werden. 

Im Bauwesen hielt der Lean-Ansatz in der Nachkriegszeit Einzug, als Unternehmen versuchten, ihrer Kundschaft durch ein kosteneffektiveres Arbeiten einen größeren Mehrwert zu bieten. Manche datieren das Aufkommen des Lean-Construction-Ansatzes jedoch erst auf 1993, als die International Group for Lean Construction (IGLC) gegründet wurde. 

Die IGLC bezeichnet sich selbst als internationales Netzwerk von Forschenden aus den Bereichen Architektur und Bauingenieurwesen. Ihre Mitglieder „sind der Meinung, dass die Ausbildung, Forschung und Praxis in der AEC-Branche einem radikalen Wandel unterzogen werden müssen, um die bevorstehenden globalen Herausforderungen zu bewältigen“. 

Auch andere Organisationen haben sich diesem Ansatz verschrieben. Laut dem in den USA ansässigen Lean Construction Institute (LCI) ist Lean Construction „ein respekt- und beziehungsorientierter Produktionsmanagementansatz für die Projektabwicklung, also eine neue und transformative Herangehensweise an die Gestaltung und den Bau öffentlicher Einrichtungen.“ 

Lean-Construction-Prinzipien 

Das LCI schlägt sechs Prinzipien für den Lean-Construction-Ansatz vor: 

  1. Respekt gegenüber den Menschen
  2. Optimierung des gesamten Projekts
  3. Vermeidung von Ressourcenverschwendung
  4. Reibungslose Prozesse und Arbeitsabläufe
  5. Generierung von Mehrwert
  6. Kontinuierliche Verbesserungen

Andere schlagen vor, dass auch die Anforderungen der Kund:innen ein zentraler Aspekt des Lean-Construction-Ansatzes sein sollten. Der Mehrwert für Kund:innen solle dabei „ohne Kompromisse hinsichtlich der Prozesskosten und -effizienz“ erzielt werden. 

Beispiele für Lean Construction aus der Vergangenheit und Gegenwart 

Der Lean-Construction-Ansatz deckt sich mit dem Bestreben vieler Bauexpert:innen, moderne Konstruktionsmethoden anzuwenden. In seiner Arbeit mit dem Titel „Lean Construction Principles Past and Present – A Business Model Consistency“ (Lean-Construction-Prinzipien damals und heute – ein konsistentes Geschäftsmodells) hebt Mohammed S. Hashem M. Mehany von der Missouri State University Folgendes hervor: Da eine schnelle Projektfertigstellung fester Bestandteil des Lean-Construction-Ansatzes ist, „sind Konzepte wie der modulare Bau so wichtig, denn sie tragen dazu bei, dieses Lean-Construction-Ziel durch die Wertschöpfung und Abfallvermeidung zu erreichen.“ 

Geschwindigkeit war sicherlich auch ein relevanter Faktor beim Bau eines der bekanntesten Gebäude der Welt, das man aus heutiger Sicht wohl zudem als eines der berühmtesten Beispiele für Lean Construction bezeichnen kann. 

Nur 20 Monate dauerte der Bau des am 1. Mai 1931 eröffneten Empire State Building in New York City, einschließlich der Entwurfs- und Genehmigungsphase. 

In ihrer Arbeit „Analyzing The Empire State Building From The Perspective of Lean Delivery System“ (Analyse des Empire State Building aus Perspektive der Lean-Projektabwicklung) von 2014 erklären Somik Ghosh und Kenneth Robson, dass viele der Praktiken der damaligen Auftragnehmer Starrett Brothers & Eken aus heutiger Sicht als Lean-Construction-Techniken betrachtet werden können. Dazu zählen auch der Just-in-time-Entwurf, die Detaillierung sowie die Lieferung der Baustahlkomponenten für die 102 Stockwerke des Gebäudes. 

Darüber hinaus griff das am Gebäude arbeitende Team auf Arbeitsabläufe zurück, die es den Auftragnehmern ermöglichten, Einblicke in den Status einzelner Elemente der ausgeführten Arbeiten zu erhalten, so heißt es in der Arbeit weiter. 

Ein aktuelleres – und aufgrund seiner rapiden Fertigstellung spektakuläres – Beispiel dafür, wie der Lean-Construction-Ansatz den Projektabschluss beschleunigen kann, ist das T-30-Hotel im chinesischen Changsha. 

Das 30-stöckige modulare Gebäude wurde in nur 15 Tagen fertiggestellt, wobei für die Hauptstruktur des Gebäudes nur 46 Stunden benötigt wurden. 

Anwendung der Lean-Construction-Methodik 

Wie setzt man Lean-Construction-Methoden in der Praxis um? Viele sind der Meinung, dass man von Anfang an die Wünsche seiner Kundschaft noch übertreffen sollte. Dafür muss man zunächst auf die Kundenwünsche eingehen und verstehen, warum ein bestimmtes Projekt überhaupt gebaut werden soll. So entsteht ein tieferes Verständnis für das „Warum“ des Projekts, welches dann in die Projektstrategie einfließen kann. 

Diese Herangehensweise spiegelt sehr gut wider, was das LCI als Optimierung des Gesamtprojekts bezeichnet: Es kann sich als enorm effektiv erweisen, wenn man alle Projektbeteiligten an einem Tisch zusammenbringt, sich gegenseitig zuhört, zusammenarbeitet und die Projektanforderungen ausführlich durchgeht. 

Enge Beziehungen zu Auftragnehmer:innen und Lieferant:innen sorgen für eine Lieferung der gewünschten Menge, wenn sie gebraucht wird, wodurch eine Ressourcenverschwendung vermieden wird. Diese Just-in-time-Methode ist ein weiterer wichtiger Grundsatz des Lean-Construction-Ansatzes. 

Auch eine sorgfältige Planung und Überwachung nach Baubeginn können die Umsetzung von Lean-Construction-Methoden bei einem Projekt optimieren, da dadurch die Effektivität der Arbeitsabläufe erhöht wird. Beim Bau des Empire State Building waren eine effektive Planung und Überwachung wesentliche Faktoren für die schnelle Projektabwicklung. 

Künftige Umsetzung des Lean-Construction-Ansatzes im digitalen Zeitalter 

Die Effizienz detaillierter Planungs- und Überwachungsabläufe, also von Schlüsselelementen des Lean-Construction-Ansatzes, kann durch den Einsatz digitaler Technologien noch weiter gesteigert werden.  

Die Möglichkeit für Projektbeteiligte, jederzeit online auf Dokumente zuzugreifen und vereinbarte Anpassungen, Optimierungen oder größere Änderungen mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Projekt vorzunehmen, darf nicht unterschätzt werden. 

Eine wissenschaftliche Arbeit beschreibt, wie 3D-Visualisierungen, Bauprozesssimulationen und die Kollisionserkennung auf effektive Weise bei einem sechsstöckigen Parkhausprojekt im chinesischen Shenzhou angewendet wurden. Für das Lean-Construction-Management dieses Projekts wurde Building Information Modeling (BIM) eingesetzt.  

Das Projektteam konnte „unverhältnismäßige Probleme während der Planungs- und Bauphase entdecken […] und so die Bauaktivitäten lenken“. Gleichzeitig wurden Bausimulationen verwendet, um „den detaillierten Zeitplan einzuhalten und die jeweils darauffolgenden Aufgaben entsprechend anzupassen“. 

Obwohl Technologie uns definitiv dabei helfen kann, immer größere Erfolge mit dem Lean-Construction-Ansatz zu erzielen, müssen wir ihn letztendlich als mehr als nur eine Managementtechnik betrachten, schrieb der mittlerweile verstorbene Jon White, damaliger Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Turner & Townsend. Stattdessen sollte Lean Construction als Teil eines grundlegenden Wandels in der Interaktion zwischen Kund:innen und Lieferant:innen verstanden werden. 

„Das Ziel“, fügte White noch hinzu, „sollte darin bestehen, die Lieferkettendynamik zu verbessern und traditionelle Konfliktbeziehungen, die alleine vom Preis geprägt sind, durch kooperativere, wertorientierte Beziehungen zu ersetzen, in denen Kund:innen und Lieferant:innen ihre Ziele und Erfolge miteinander teilen.“ 

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