Virtuelle Realität in der Architektur: ein Wendepunkt?

Einst war virtuelle Realität Spieleentwickler:innen vorbehalten, heute können Architekt:innen und ihre Kund:innen damit ein Gebäude lange vor seiner Fertigstellung in Augenschein nehmen.

Die Vorstellung, ganz in eine 3D-Darstellung der Welt eintauchen zu können, hat schon immer eine große Anziehungskraft auf Künstler:innen und Architekt:innen ausgeübt. Die Technologie, mit der diese Vorstellung verwirklicht werden kann, existiert im Grunde bereits seit fast 200 Jahren.

Alles begann 1838, als Charles Wheatstone, ein Mitglied der Royal Society in London, das Stereoskop erfand. Wie der Name bereits verrät, ermöglicht dieser Apparat die Betrachtung eines Bildes in Stereo, wobei man durch das entstehende Relief eine Art primitive 3D-Abbildung erhält.

Mit der Zeit hat sich die Technologie weiterentwickelt.In den 1950er-Jahren präsentierte Morton Heilig, Kameramann in Hollywood, den Kinobesucher:innen dieser Welt sein „Sensorama“, welches ein intensiveres Filmerlebnis versprach. Doch erst in den 1980er-Jahren entstand das, was wir heute als die typische Ausrüstung zum Erleben virtueller Realität (Virtual Reality, VR) kennen. Zu dieser Zeit entwickelte der US-amerikanische Informatiker und Künstler Jaron Lanier ein VR-Headset und einen Handcontroller, was ihm in manchen Kreisen den Ruf als „Erfinder der virtuellen Realität“ einbrachte.

Nachdem die VR-Technologie ursprünglich das Computerspielerlebnis erweitern sollte, wird sie inzwischen in verschiedensten Branchen eingesetzt, um eine bessere Visualisierung der Umwelt zu ermöglichen.Architekt:innen nutzen die Vorteile von virtueller Realität heute mit beachtlichem Erfolg.

In Kombination mit erweiterter Realität (Augmented Reality, AR) kann VR Benutzer:innen wie Architekt:innen und ihren Kund:innen eine Vorstellung davon vermitteln, wie ein Gebäude nach Abschluss des Projekts aussehen wird, einschließlich der Innengestaltung, Ausstattung und Einrichtung. Sie erlaubt es Architekt:innen, noch vor Beginn des Bauprozesses mit einem Konzept zu experimentieren, sodass Anpassungen an einem bestehenden Angebot vorgenommen und am Ende ein besseres Ergebnis erzielt werden kann. Das bedeutet auch, dass sich Kund:innen bereits Monate oder sogar Jahre vor der Fertigstellung ein Bild vom Endergebnis machen können.

Architekt:innen setzen immer häufiger auf virtuelle Realität. Bluebeam hat mit Jack Stewart, Architekt und Digital Design Lead bei Hawkins\Brown, und Ben Robinson, Associate im Bereich Digital Design, über ihre Ansichten zum Thema VR gesprochen.

Bluebeam: Seit wann nutzt Hawkins\Brown virtuelle Realität?

Jack Stewart: Wir haben unser erstes VR-Headset von Oculus angeschafft, als es auf den Markt kam, also vor etwa fünf Jahren, und angefangen, uns näher mit der Erstellung von Computerspielumgebungen für unsere Projekte zu beschäftigen. Wir können die Technologie bei jedem Projekt anwenden, aber normalerweise setzen wir sie dort ein, wo wir es für wichtig halten, oder wenn wir Kunden einen bestimmten Teil eines Projekts näher erklären müssen.

Unsere Arbeit besteht zu einem Großteil aus rechnergestützter Gestaltung und wir nutzen eine Vielzahl von Programmiertechnologien zur Unterstützung unserer Entwürfe. Aber wir haben auch ein Faible für neue Technologien und probieren gern jede verfügbare Technologie für unsere Projekte aus, wenn es einen guten Grund dafür gibt. An diesem Punkt kam VR ins Spiel. Wir bekamen einige Headsets in die Hände und begannen damit, die VR-Umgebungen hinter diesen Headsets für einige unserer Projekte zu erstellen. Die Oculus-Treppe im Sbarc|Spark-Gebäude auf dem Innovation Campus in Cardiff ist wahrscheinlich das ausgereifteste Beispiel dafür.

BB: Ben, können Sie uns etwas über dieses Projekt erzählen?

Ben Robinson: Beim Sbarc|Spark-Gebäude[, das von Bouygues U.K. gebaut wird,] haben wir zum ersten Mal Engine- und VR-Technologie aus dem Computerspielbereiche für ein Projekt genutzt. Dies war sowohl für die Entwurfsentwicklung als auch für die Koordination von HLSE-Systemen sehr hilfreich. Wir verwendeten Dynamo sowie enginebasierte Echtzeit-Begehungen zur Aktualisierung des Entwurfs. Auf diese Weise konnten wir uns direkt um das Modell herumbewegen, um die Auswirkungen der Änderung zu beurteilen – entweder auf dem Bildschirm oder mithilfe des VR-Headsets, um noch tiefer in das Modell einzutauchen.

Einer der wichtigsten Designfaktoren beim Oculus-Projekt war es, den Blick nach oben möglichst frei von HLSE-Ausstattungen zu halten. Während der Koordinationsworkshops konnten wir neue HLSE- und Strukturmodelle erfassen, den architektonischen Entwurf nach Bedarf optimieren und den Raum viel besser erlebbar machen als dies auf dem Bauplan oder in Revit möglich war. Die Verwendung dieser Engine-Technologie hat auch dabei geholfen, die Universität von unserer Vision des Oculus zu überzeugen. Mit dem VR-Headset war es möglich, es von oben und unten zu betrachten und den Raum viel besser zu erleben als durch 2D-Pläne oder CGIs. Am Ende erstellten wir für die Universität ein hochwertiges, virtuell begehbares Modell, das sie für Marketingzwecke nutzen konnte.

BB: Welche konkreten Faktoren sind ausschlaggebend dafür, ob VR bei einem Projekt zum Einsatz kommt oder nicht?

JS: Ein computergeneriertes 3D-Modell erstellen wir bei so ziemlich jedem Auftrag, an dem wir arbeiten. Voraussetzung dafür ist, dass das Projekt durchführbar ist und irgendeine Art von physikalischem Massenmodell benötigt wird. Sobald man ein 3D-Modell hat, ist der nächste logische Schritt dessen Übertragung in eine Virtual-Reality-Umgebung.

Es geht um den Fokus auf Details, vor allem bei Gesprächen mit Kunden oder Präsentationen zu Planungszwecken. Und dann geht es darum, diese Details in das Modell zu integrieren und sie anschließend in eine Anwendung zu übertragen, in der sie über ein Headset visualisiert werden können. Mithilfe der verfügbaren Technologien ist das ziemlich schnell möglich.

BB: Gibt es Grenzen bei der Nutzung von VR?

JS: Es existieren verschiedene Meinungen zum Nutzen von VR. Es hat sicherlich seine Vorteile, aber es gibt auch Grenzen, ja. Die VR-Visualisierung ist immer nur für eine Person auf einmal erlebbar. Daher greifen wir bei Besprechungen mit Kunden eher auf einen Großbildschirm zurück, wenn mehrere Personen anwesend sind, was meistens der Fall ist. Es sind die gleichen Bilder, die man auch über ein VR-Headset sehen würde, eben nur auf einem Bildschirm. Was sich hinter den Kulissen abspielt, das Erlebnis dahinter sozusagen, das ist das, was wir gestalten. Und darauf kommt es an. Ob man die Bilder nun auf einem Bildschirm oder über ein Headset auf einem Bildschirm direkt vor den Augen betrachtet, macht keinen Unterschied.

BB: Aber VR hat definitiv seinen Nutzen?

JS: Definitiv. Der Einsatz von VR in Gesprächen mit Kunden kann zu ganz neuen Ergebnissen führen. Beim Oculus-Auftrag für das Sbarc|Spark-Gebäude auf dem Innovation Campus in Cardiff legte der Kunde großen Wert darauf, am Fuß der Treppe stehen und bis hinauf zu ihrem obersten Absatz blicken zu können, um eine visuelle Verbindung durch das Gebäude zu schaffen. Das Bauunternehmen schlug vor, die Position der Treppe leicht zu verschieben und sie senkrechter auszurichten. Damit wäre aber genau dieser Blickwinkel „durch das Gebäude“ verlorengegangen. Durch die Verwendung eines VR-Headsets konnten wir veranschaulichen, wie das ausgesehen hätte. Durch das rechnergestützte Modell, das wir von der Treppe erstellt hatten, konnten wir die Ansicht durch das VR-Headset optimieren und zeigen, wie sie sich veränderte. Der Vorschlag des Bauunternehmens hätte Kosteneinsparungen mit sich gebracht, doch der Kunde war nicht bereit, dafür eine Anpassung der Perspektive in Kauf zu nehmen, die die Oculus-Treppe bot.

Das Betrachten von Plänen, Aufrissen und Abschnitten ermöglicht nicht das gleiche Visualisierungserlebnis. Das kann nur durch die Nutzung von VR-Technologie erreicht werden. Kunden diese 3D-Perspektive anbieten zu können, ist definitiv ein großer Pluspunkt. Dabei nutzen wir sie für Räume und Gebäude, in die sie in ein paar Jahren einziehen werden.

BB: Wie erweitert VR den Entwurfsprozess?

JS: VR kommt eher am Ende des Entwurfsprozesses ins Spiel.Der Entwurf ist fertig und es geht darum, ihn an Kunden oder andere Beteiligte zu kommunizieren. Das könnte sich jedoch bald ändern. Derzeit wird unter anderem von Johan Hanegraaf, Mitbegründer von Arkio, eine Technologie entwickelt, die mithilfe von Headset und Handcontrollern das Verschieben, Ziehen, Anpassen, Formen und Gestalten von Gebäudemassen und -entwürfen erlaubt.

Anwendungen wie Revit und Rhino bieten uns einen Großteil der Werkzeuge, die wir für die Erstellung unserer Entwürfe benötigen. Aber derzeit ist es uns noch nicht möglich, ein Headset aufzusetzen und damit nativ zu gestalten. Mit Headsets steht uns nicht die gesamte Palette an Gestaltungsfunktionen zur Verfügung. Sie sind nicht für die Verwendung mit einem Headset und zwei Controllern konzipiert. Softwareanbieter müssen VR-freundliche Versionen ihrer Software entwickeln, damit wir Rhino in Verbindung mit einem Headset nutzen können. Dann würden wir uns vielleicht eher dafür entscheiden anstatt für die Verwendung von Maus, Tastatur und Bildschirm.

Wenn Softwareentwickler dieses Problem lösen könnten, hätte man damit ein wirklich wertvolles Stück Gestaltungssoftware geschaffen. Aber vor allem müssten wir damit die Entwürfe umsetzen können, die zurzeit machbar sind oder noch darüber hinausgehen. Wenn es eine Lösung geben sollte, die das kann, dann werden wir sie auch nutzen.